Dienstag, 19. März 2024

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Italienische Novellen

Lakonisch vermeldet die italienische Tageszeitung "Corriere della Sera" den Tod eines jungen Mannes namens Antonio Mambrini. Der Abiturient litt an einer unheilbaren neurologischen Krankheit und wurde auf eigenen Wunsch mit Einwilligung der Familie von seinem Vater erschossen. Der Vater brachte sich im Anschluß an die Tat um. Hartmut Lange entdeckt die Zeitungsnotiz und schreibt darüber eine Novelle, die er "Die Verteidigung des Nichts" nennt. "Diese Geschichte ist für mich ein Beispiel für positiven Nihilismus", so Hartmut Lange. "Wie man aus dem Grauen etwas Sinnvolles macht. Ich sehe den Nihilismus ja positiver, als er im Sprachgebrauch, im Umgangsdeutsch sozusagen aufscheint. Ich meine, wir entkommen dem Nihilismus ja nicht, wir sind im Zeitalter des Nihilismus, und es ist immer die Diskussion, wie überwindet man ihn. Nimmt man ihn als Chance zur Sinnstiftung oder nimmt man ihn ganz destruktiv."

Maike Albath | 09.02.1999
    "Die Verteidigung des Nichts" über den Sinn einer nihilistischen Haltung ist eine von drei Erzählungen, aus denen sich Hartmut Langes neuer Band "Italienische Novellen" zusammensetzt. Die Variation der traditionellen Erzählform, von Lange schon oft erprobt, könnte klassischer kaum sein. Es sind stilistisch strenge Kompositionen, in sich geschlossen, zielgerichtet und von äußerster Konzentration. Und sie handeln von "unerhörten Begebenheiten" - seit Entstehung der Gattung im 14. Jahrhundert mit Boccaccios "Decamerone" schließlich das bedeutendste Charakteristikum der Novelle. Mit knappen, schmucklosen Sätzen schildert Lange in der "Verteidigung des Nichts" das Alltagsleben der Familie Mambrini. Antonio ist der Stolz seiner Eltern, ein erfolgreicher Schüler, gutaussehend, von seiner Schwester bewundert, bei allen beliebt. Eines Morgens in der Zeit der Abiturprüfungen entgleitet ihm plötzlich die Kaffeetasse, und kurz darauf fährt er mit seinem Mofa gegen eine Hauswand. Ein Mißgeschick, das jedem passieren kann, denken die Eltern, Antonio legt glanzvolle Prüfungen ab, wird mit einem neuen Mofa belohnt und rast ein zweites Mal gegen die Wand. Mit der Subtilität eines Hitchcock-Films läßt Lange allmählich Unbehagen entstehen, das den Leser sofort ergreift, während sich die Familie Mambrini der Angst noch verweigert. Für eine Weile überspielen die Eltern das ungewohnte Verhalten ihres Sohnes, doch dann wird ihnen die Ausweglosigkeit ihrer Lage bewußt. Sie stellen sich ihrem Schicksal und denken darüber nach, wie sie Antonio den Weg in den Tod erleichtern könnten. Diese Reaktion meint Hartmut Lange, wenn er von positivem Nihilismus spricht. Denn die Familie begreift sich nicht nur als ein soziales Gefüge, sondern als einen metaphysischen Verband. Die Todesbereitschaft der Angehörigen mag bizarr anmuten, innerhalb des Wertesystems der Familie ist sie nur folgerichtig. Das Unausweichliche der Situation macht die Tragik des Stoffes aus, aber die dramatische Zuspitzung geschieht unterhalb der Oberfläche und entfaltet sich erst in der Phantasie des Lesers. Langes sachlicher Berichtstil nimmt der Geschichte jede Sentimentalität. "Nun ist die Erzähltechnik ja immer eine filmische", erklärt Lange. "Ich reflektiere ja kaum in den ganzen Erzählungen, es sind immer Filmaufnahmen, es sind Einstellungen, es sind Bilder. Viele haben mir auch gesagt, das fand ich eine kluge Bemerkung, es wirkt wie ein Schwarzweißfilm. Dadurch entsteht diese Distanz und diese Nüchternheit, und nur deswegen kann man es ertragen. Wenn man es jetzt stilistisch noch mit Mitleid belasten würde, wäre es Kitsch, wäre es unerträglich. Wenn man einen schwarzen Horizont malt, muß man möglichst viel Licht darauf scheinen lassen."

    Auch in den anderen beiden Novellen "Das Plakat" und "Der neue Mieter" täuscht Langes klarer Erzählstil zunächst über den schwarzen Horizont hinweg. Umschmeichelt von einfachen, kühlen Sätzen gleitet der Leser mit Genuß in die Fiktion und verläßt sich auf die Stabilität der Welt-Koordinaten. Daß der Untergrund aus Treibsand besteht, verblüfft ihn dann nicht weniger als die Helden. In "Der neue Mieter" muß die übereifrige Concierge Frau Lehmann, eine Dame in mittleren Jahren, mit den ärgerlichen Angewohnheiten eines neuen Hausbewohners zurecht kommen. Der junge Mann sägt an einem Baum herum, ohne sich um die herunterfallenden Äste zu kümmern, er schleift wochenlang Abend für Abend sein Parkett ab und geht einer undurchsichtigen Beschäftigung nach. Frau Lehmann bemüht sich, ihn in die Hausordnung einzuweisen, und eines Tages steht der neue Mieter mit einem Alpenveilchen vor ihrer Tür, um sich für die Unruhe zu entschuldigen. Ohne daß Frau Lehmann etwas dagegen tun könnte, wird der unbekannte junge Mann zum Angelpunkt ihres Daseins. Als er plötzlich nicht mehr auftaucht, verliert sie den Bezug zur Wirklichkeit. Ähnlich brüchig erweist sich auch die Existenz des biederen Bankbeamten Henninger in der Novelle "Das Plakat". Der Berliner Beamte hält sich aus geschäftlichen Gründen in Wien auf. An einer Litfaßsäule in der Nähe seines Hotels entdeckt er ein Plakat mit der Überschrift "Sie sind verschwunden", darunter steht eine lange Namensliste. Aus ihm selbst unerfindlichen Gründen setzt er seinen eigenen Namen an das Ende der Liste. Ein mysteriöser Fremder in Sandalen kreuzt seine Wege, und statt wie geplant nach Berlin zurückzukehren, beginnt nun eine Odyssee durch Italien bis nach Afrika, wohin er dem Unbekannten am Ende nachreist. Frau Lehmann und Herr Henninger scheinen auf den ersten Blick vollständig der Diesseitigkeit verpflichtet, unvermutet wird ihr geordnetes Leben erschüttert, zurück bleibt ein tiefer Riß. "Es ist sozusagen die Alltäglichkeit des Unheimlichen, wie Heidegger sie auch beschreibt, die Angst hat ja eigentlich keinen Grund", so Lange. "Sie nistet im Alltäglichen, weil sie über das Alltägliche hinausweist, aber sie ist immer auf dem Sprung, sie ist ein schlafender Hund. Der ist in jedem Menschen drin. Das ist keine Frage der Bildung oder des Unglückerlebnisses, sondern unser Dasein ist etwas Unvereinbares, und auch wenn wir es nicht wissen, ist es sozusagen in uns, da es die Struktur des Unvereinbaren hat, und irgendwann platzt das dann auf, und dann finden die Leute, daß ihr Leben, das so durchstrukturiert war und so scheinbar logisch ablief, daß das auch irrational ist. Das ist sozusagen nicht die Psychopathologie des Alltagslebens wie bei Freud, denn die hat ja Krankheitsbilder als Voraussetzung, sondern es ist das Nichts am Leben, auch das Nichts am alltäglichen Leben."

    Hartmut Lange erkennt in der Existenzphilosophie Heideggers die Beschreibungen ganz alltäglicher Befindlichkeiten. So resultiert der existentialistischen Lehre zufolge die Empfindung der Angst aus der Einsamkeit des Menschen vor dem Nichts. Zugleich gilt die Angst als eine Lebensprämisse, denn nur durch diese Erfahrung kann man das eigene Sein begreifen. Lange steht in vielem den Überzeugungen Kierkegaards und Heideggers sehr nahe, aber natürlich geht es ihm um die literarische Berarbeitung dieser urmenschlichen Seinszustände. Man kann die "Italienischen Novellen" auch ohne Kenntnis des philosophischen Hintergrunds mit großem Vergnügen lesen, denn sie sind alles andere als abstrakt. Weiß man allerdings darüber Bescheid, beeindruckt die Vielschichtigkeit der auf den ersten Blick so simpel strukturierten Allerwelts-Helden. Eine Erkenntnis des eigenen Daseins gelingt ihnen jedoch nicht, eher drohen die ungewohnten Erfahrungen Herrn Henninger und dessen Leidensgenossen zu verschlingen. Inmitten ihrer vertrauten Umgebung tauchen dunkle Löcher auf und eine unbekannte Sehnsucht treibt sie um. "Die Figuren haben alle eine Eigenschaft, die ich auch an mir spüre, die haben ein unlöschbares Transzendenzbegehren. Das kann man nur nicht so ausdrücken. Wie hat ein normaler Mensch ein unlöschbares Transzendenzbegehren, das ist eben halt, wenn die Frau Lehmann sich verliebt - hoffnungslos, dann erhält sie diese Liebe eben, indem sie sie zur Transzendenz erhebt. Sie bildet sie sich dann ein, und es ist immer besser, man behält eine eingebildete Rose bei sich, als daß man überhaupt nie eine kriegt. Das ist ein Transzendenzbegehren, das nicht christlich, sondern ganz dem Faktischen zugewandt ist."

    Frau Lehmann erhofft sich mehr vom Leben, als das, was sie bisher besaß und vermutet das Glück hinter dem Briefschlitz des neuen Mieters. Nur dunkel erahnt sie das Nichts hinter der Welt, dem sie durch ihre Sehnsucht auszuweichen sucht. Die italienische Familie Mambrini ist mit dem Unerklärbaren des Lebens vertraut. Sie hat das unheimliche Hintergrundrauschen längst angenommen, befindet sich damit auf einer höheren Bewußtseinsstufe und kann deshalb das Nichts auch verteidigen. Langes zarte Novellen erzählen von den Abenteuern mit den mysteriösen Abgründen des Daseins, die sich Tag für Tag in Berliner Treppenhäusern, Wiener Hotels oder italienischen Provinzstädten zutragen.