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Jazzfest Berlin
Martin Luther King als Pate

Die Berliner Festspiele feiern 50 Jahre Jazzfest. Zum Auftakt im Jahr 1964 schrieb der US-Bürgerrechtler Martin Luther King ein Geleitwort und bezeichnete Jazz als "eine Musik des Trostes, Triumphes, der Ermutigung und des Freiheitsstrebens". Im Jubiläumsjahr steht der Bürgerrechtler im Mittelpunkt.

Von Michael Laages | 02.11.2014
    Willy Brandt (l), der regierende Bürgermeister von Berlin, trifft am 15.05.1964 in New York den Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King (r).
    Im Jahr 1964 war der US-Bürgerrechtler Dr. Martin Luther King zu Gast in Berlin und schrieb ein Geleitwort für das Jazzfestival. (picture alliance / Schulmann-Sachs)
    Derlei polternde Peinlichkeiten hatten eigentlich weder die Bürgerrechtler der DDR noch Martin Luther King verdient – und schon gar nicht das arme deutsche Volkslied "Die Gedanken sind frei".
    Der US-Entertainer Kurt Elling stimmte diese deutschen Strophen an im Festspielhaus – und würzte so (und im Zusammenklang mit der an sich ja wirklich illustren und aller Ehren werten Bigband des WDR) ein amerikanisches Propaganda-, besser: Re-Education-Programm, wie es sich die Regierung von Dwight D. Eisenhower vor 60 Jahren nicht schöner hätte ausdenken können für die Trümmerstadt tief in rotem Feindesland. Lange nicht mehr wurde eine "Botschaft", hier: die der Freiheit, und wurden an sich bewegende Worte (von John F. Kennedys "Ich bin ein Berliner" bis hin zu Martin Luther Kings "I have a dream"-Predigt) derart gegen sich selbst gekehrt wie hier – der präpotente Ton der Sieger-Show ließ jedes schöne Wort in Scherben gehen. Und reichlich Publikum im Saal verbat sich derlei schmieriges Gehabe – seit Jahren gab's nicht mehr so viel Widerspruch mit Pfiffen und "Buh!" wie gestern.
    Musik des Freiheitsstrebens
    Dabei hatte alles ganz ernsthaft begonnen – mit JazzFest-Chef Bert Noglik: "1964 hat Martin Luther King die Berliner Festwochen eröffnet, und Martin Luther King hat auch ein Geleitwort für das Jazzfestival geschrieben, in dem er den Jazz mit sehr poetischen Worten charakterisiert hat: als eine Musik des Trostes, als eine Musik des Triumphes, als eine Musik der Ermutigung und des Freiheitsstrebens."
    Zur Eröffnung der "Berliner Festwochen" hatte Bürgerrechtler King am 13. September 1964 eine Rede gehalten über den wenige Monate zuvor ermordeten John F. Kennedy, vor wenigen Wochen schon richtete das Festival jetzt einen "Tag für Martin Luther King" aus. Der zweite Teil von Kings Berlin-Besuch allerdings wurde vor lauter Stolz kaum thematisiert – der auch in der DDR natürlich weltbekannte Prediger war am Abend des 13. September 1964 zum "Checkpoint Charlie" gefahren; er überquerte die Grenze nach Ostberlin, bewaffnet nur mit einer Kreditkarte als Ausweis, und er predigte in zwei hoffnungslos überfüllten Kirchen im Zentrum der Stadt. Mit dieser Geschichte, nicht mit dem Propaganda-Feldzug der "Freiheitslieder", wäre die Verbindung herstellbar gewesen zum anderen großen Moment der Geschichte: dem Mauerfall vor 25 Jahren.
    Gospel- und Punk-Kompositionen
    Jetzt, in der Jubiläumsausgabe, hat der Pianist Ulrich Gumpert auf sehr kluge Weise an das Potenzial erinnert, dass die DDR auf Jazz-Terrain mitbrachte in die neue Einheit – er hat die gemeinsam mit dem 2009 früh verstorbenen Dramatiker Jochen Berg erarbeiteten Kurz-Opern unter dem Titel "Die Engel" wieder aufgeführt: ein Ereignis zwischen den Welten von Jazz und Literatur. Im Festival-Programm dieser Tage hat der Multi-Instrumentalist Elliott Sharpe das Erbe von Martin Luther King beschworen – mit Kompositionen, die sich aus dem Gospel bis tief in den Punk schraubten, aber zum Glück auch wieder zurück kehrten. Der Sänger Eric Mingus, Sohn des legendären Bassisten Charles Mingus, traf neben vielen anderen avancierten Sounds zuweilen sogar den beschwörenden Ton des Predigers selber.
    Der Saxofonist Archie Shepp, Teil des schwarzen Auf- und Ausbruchs der 60er Jahre, eroberte neben dem Festspielhaus auch das mit blauem Glas umbaute Schiff der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, für sich und Jasper van't Hof an der Orgel – auch das war ein Glanzlicht im Geist von Martin Luther King. Und noch eine Erinnerung prägte das geschichtsreiche Fest – die an den Saxofonisten Eric Dolphy, der vor tatsächlich 50 Jahren starb in Berlin, nur 36 Jahre alt. Bands um den Berliner Szene-Veteranen Alexander von Schlippenbach und die junge Saxofonistin Silke Eberhard forschten sehr klug und kompetent auf Dolphys Spuren.
    Und dann war da der Schweizer Schlagzeuger Daniel Humair – er nahm schon am allerersten Festival teil und brachte nun zum Jubiläum im eigenen Quartett zwei Superstars aus Frankreich, Vincent Peirani und Emile Parisien. Das war die schönste Erinnerung dieser JazzFest-Tage – die des Festivals an sich selbst zur "Stunde Null". Und wer weiß – die Festival-Leitung wechselt komplett nach diesem Jubiläum: vielleicht steht auch jetzt ein Neuanfang bevor.