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Jeden zweiten Deutschen trifft die Pflege

Pflegebedürftig zu werden, das kann jeden treffen, rein statistisch betrachtet benötigt jeder zweite Deutsche Pflegehilfe im Alter, wobei es sicherlich noch Unterschiede im Grad der Bedürftigkeit gibt. Die Barmer Ersatzkasse analysiert die aktuelle Situation in ihrem Pflegereport 2010, den sie heute in Berlin vorstellt.

Von Philip Banse |
    Rund die Hälfte aller Menschen, die 2009 starben, mussten zuvor gepflegt werden – Tendenz steigend. Ein großes und stark wachsendes Problem dabei ist die Alters-Demenz, also der mitunter rasche Verlust des Kurzeitgedächtnisses, des Sprachvermögens und der Motorik. Der Pflegereport 2010 der Barmer Ersatzkasse stellt fest: Fast die Hälfte aller Frauen müssen damit rechnen, im Alter dement zu werden. Bei den Männern sind es immerhin noch ein Drittel. Die Zahl dementer Menschen wachse enorm, sagt Studienleiter Professor Heinz Rothgang von der Uni Bremen – und sie seien fast immer pflegebedürftig:

    "Die Pflegeversicherung muss sich darüber im Klaren sein, dass hier eine gewaltige Last auf uns zukommt – sowohl finanziell, als auch bei den Versorgungskonzepten. Die Zahl der Dementen und ihr Anteil an der Bevölkerung wird sich vervielfachen. Die Zahl der Dementen wird sich in den nächsten 50 Jahren verdreifachen. Und darauf ist unser Versorgungssystem nicht vorbereitet."

    Barmer-Vorstand Rolf-Ulrich Schlenker fordert, als Erstes müsse der Pflegebegriff erweitertet werden, also die Definition, ab wann Menschen Geld aus der Pflegeversicherung bekommen.

    "Wir müssen weg von dem derzeitigen Pflegebegriff, der auf Verrichtungen abstellt: wie man sich reinigt, Hygiene, solche Dinge. Wir müssen auf den Grad der Selbstständigkeit schauen unter der Einbeziehung auch von kognitiven Möglichkeiten. Und dazugibt es ja einen Bericht eines Beirats, der hat Vorschläge gemacht und die muss die Politik jetzt umsetzen."

    Außerdem müssten Pflegekräfte besser für den Umgang mit Demenzkranken geschult werden. Mehr Pflegebedürftige, deren Pflege öfter von der Pflegeversicherung bezahlt werden soll – das alles wird viel Geld kosten. Daher will Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler zusätzlich zur gesetzlichen Pflegeversicherung eine private Pflege-Zusatzversicherung auf den Weg bringen: Ähnlich der Riesterrente sollen Menschen privat Kapital anhäufen, um später ihre Pflege besser zahlen zu können. Davon halten gesetzliche Versicherer wie die Barmer und Heinz Rothgang von der Uni Bremen nichts:

    "Die Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums ergeben, dass wir schon 2013 ein Defizit machen in der Pflegeversicherung. Bis 2014 können die Reserven aufgezehrt werden – danach brauchen wir frisches Geld. Ich sehe nicht, wie das in einer kapitalgedeckten Säule erzeugt werden kann. Denn Kapitaldeckung ist ein Verfahren, wo über mehrere Jahre Kapital aufgehäuft wird, da wird Kapital akkumuliert und eben nicht sofort zur Verfügung gestellt. Insofern halte ich die Kapiteldeckung für unangemessen, um die aktuellen Probleme zu lösen."

    Der Autor des Pflegereports glaubt, dass der steigende Aufwand für Pflegebedürftige von der gesetzlichen Pflegeversicherung getragen werden kann:

    "Im Wesentlichen ja. Ich würde es begrüßen, wenn man die Bemessungsgrundlage vergrößern würde, also auch die PKV-Versicherten mit einbeziehen würde – entweder in die soziale Pflegeversicherung oder über einen Finanzausgleich. Das würde sicherlich helfen. Aber es geht kein Weg dran vorbei, dass die Lasten steigen und auch der Beitragssatz dann steigt."

    Das Bundesgesundheitsministerium hat errechnet, dass der Beitragssatz für die Pflegeversicherung auf 2,8 Prozent steigen wird. Professor Heinz Rothgang denkt, dass gesetzlich Versicherte mehr werden zahlen müssen:

    "Ich denke, 3 bis 4 Prozentpunkte sind sicher realistischer als die 2,8 Prozent, die eine sehr konservative Schätzung sind."