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Jugendbuch
Kinder erschaffen sich ihre Wirklichkeit selbst

In dem neuen Jugendbuch "Ein Hoch auf den Herbstwind" von Anna Herzog kommen Erwachsene nur als Randfiguren vor. Die Kinder, allen voran die neuneinhalb Jahre alte Ami, erschaffen sich ihre Wirklichkeit selbst - und schwelgen dabei in Fantasie.

Von Ursula Nowak |
    Ein Kind auf der Schaukel und der Schatten eines Mannes
    Ein Kind auf der Schaukel: Ami beschäftigt sich in dem Buch von Anna Herzog viel mit ihren Freunden. (picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte)
    Ami ist neuneinhalb Jahre alt, sie lebt mit ihren fünf Geschwistern in einer Wohnung in der Stadt. Es gibt dort einen Garten und einen kleinen Kanal hinterm Haus und jede Menge Freunde in der Nachbarschaft. Morgens geht Ami zur Schule und am Nachmittag zieht sie mit ihren Geschwistern und Freunden durch das Viertel. Am liebsten auf Inlineskatern.
    "Nun trinkt das Jahr seinen allerletzten Schluck Sommer. Bald wird es anfangen, die Blätter von den Bäumen zu reißen, und die Grashalme unter den Stiefeln knistern zu lassen. Heute aber ist es noch warm. Weit hinten über den Dächern der Stadt ballen sich dunkle Wolken, und die Luft ist so dick, dass Ami das T-Shirt auf dem Bauch klebt. Ami und ihre allerbeste Freundin Hannah haben sich zum Inlineskaten verabredet. Das Schultor ist nachmittags offen und der Pausenhof eignet sich gut zum Inlinerfahren. Vorausgesetzt natürlich, man kann bremsen, es ist nämlich etwas abschüssig dort."
    Die Eltern von Ami leben in einer ungewöhnlichen Grundkonzeption. Da die Wohnung für die gesamte Familie zusammen zu klein ist, hat der Vater seine eigene Wohnung. Er kümmert sich regelmäßig um Erziehung und Betreuung der Kinder und kocht häufig seinen berühmten Nudelauflauf. Die Mutter arbeitet als Hebamme. Abends ist sie zuhause und isst gemeinsam mit den Kindern. Sie arbeitet auf Abruf, manchmal auch nachts. Die Kinder haben tagsüber eigene Aufgaben im Haushalt wie Wäsche sortieren oder Küche aufräumen. Die Abwesenheit der Erwachsenen hat für Anna Herzog eine Bedeutung:
    "Eine sehr wichtige. Und ich mache das auch durchaus bewusst, weil ich aus meiner Kindheit mich eigentlich immer erinnert habe, am liebsten an die Sachen erinnere und immer noch, die wir ganz alleine gemacht haben. Die Abenteuer, die wir erlebt haben, die endlosen Spiele, die wir gemacht haben und keineswegs an irgendwelche Stunden oder an irgendwelche Sportereignisse oder irgendwas dergleichen. Das heißt, ich halte alle Erwachsenen bewusst zurück und benutze sie nur als Helferfiguren."
    Die Eltern vereinbaren Regeln und feste Zeiten mit ihren Kindern, denn tagsüber sind Ami und ihre Geschwister meistens alleine zuhause. Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, sind sie nicht erreichbar. Sie haben keine Handys. Anna Herzog macht deutlich, dass Ami das überhaupt nicht gut findet. Ami rächst sich in Gedanken. Sie malt sich aus, dass ihre Eltern sie und ihre Geschwister eines Tages verzweifelt suchen werden, dann bekämen sie die Quittung für das Handyverbot. Amis Freunde benutzen ihre Handys häufig. Ami kann das nicht. Aber ihre Verabredungen funktionieren auch ohne Handy. Manchmal ist nachmittags gar nichts los. Ami sitzt auf einer Gartenmauer und träumt. Elektronische Medien als Zeitvertreib gibt es in dieser Familie nicht.
    Langeweile ist notwendig für neue Ideen
    Anna Herzog zeigt in ihrem neuen Buch "Ein Hoch auf den Herbstwind" am Beispiel von Ami, dass Langeweile notwendig ist, damit neue Ideen entstehen. Wenn Ami lange genug überlegt hat, dann sprudeln die Ideen aus ihr heraus. Und sie reißt die ganze Gruppe mit. Gemeinsam gehen die Kinder auf Entdeckungsreise. Amis älteste Schwester Rosa ist 16. Sie denkt sich Geschichten aus und erzählt sie ihren jüngeren Geschwistern.
    "Weißt du", sagt sie und beugt sich vor und sieht Ami in die Augen, "weißt du noch, wie ich euch von den Unsichtbaren erzählt habe?"
    Ami nickt und schaudert. "Die Unsichtbaren sind zwar unsichtbar, aber ihre geheimen Nachrichten, die sind sichtbar", flüstert Rosa.
    "Nachrichten?" Wo denn?" flüstert Ami zurück. Überall dort, wo niemand so genau hinsieht", sagt Rosa. "Unter der Rinde von Bäumen, auf den nackten Baumstämmen stehen welche. Das kann man sehen, wenn man die Rinde abpuhlt. Und dann... hinter den Tapeten. Manchmal hinter Spiegeln oder uralten Bildern und ... unter den Pflastersteinen auf der Straße..."
    Die ganze Welt ist voller geheimer Nachrichten der Unsichtbaren. Aber das weiß natürlich keiner. Zum Beispiel, warum auf irgendeiner Mauer 'Flora lebt' steht oder so. Weil keiner weiß, dass es eigentlich die Antwort auf irgendeine längst vergessene Frage ist."
    Die Unsichtbaren geben Ami Halt und Trost, vor allem dann, wenn sie mit niemandem über ihre Ängste sprechen will. Die kindliche Vorstellungskraft unterstreicht Anna Herzog mit Elementen der Magie. Plötzlich liegt ein kleiner Drachenohrring, der genauso aussieht wie Zoes Ohrring, vor Ami im Gras und in die Hauswand haben die Unsichtbaren das Bild eines Drachen eingeritzt. "Ein Pfeil zeigt auf das Bild. Und neben dem Pfeil steht - Ami wird glühend heiß - ZOE."
    "Ich schaffe das sowieso nie, ganz realistisch zu bleiben. Bei mir ist immer ein Stück fantastische Erweiterung dabei. Aber auch da steckt tatsächlich dahinter, dass ich Fantasie für etwas ganz Wichtiges halte. Und dass ich es für ganz wichtig halte, dass Kinder wirklich ihre eigenen Ideen entwickeln, weil die oft - ganz blöd gesagt - besser sind als das, was ihnen die Erwachsenen da immer aufdrücken. Und weil ich heutzutage oft sehe, dass das etwas untergeht. Da geht es dann immer sehr um die Intelligenz und die Lernfähigkeit und all dieses. Aber das, was in meinen Augen mindestens so wichtig, wenn nicht wichtiger ist, das ist die Möglichkeit, dass man daraus schöpft, was man alles aus sich selbst schöpfen kann."
    Viel Fantasie und Magie im Spiel
    Ami ist ein Mädchen mit viel Fantasie. Oft schwebt sie verzaubert durch den Tag. Die Gegenstände in ihrer Umgebung bekommen manchmal Gesichter und Mimik. Anna Herzog gelingt es in ihrem neuen Buch "Ein Hoch auf den Herbstwind" sehr gut, eine Welt aus der Sicht der Kinderaugen zu beschreiben. Da gibt es furchterregende Monsterautos oder runzelige Omagehwege. Die gehören zum gemeinsamen Spiel und werden Teil des Ganzen. Die Vignetten der Illustratorin Susanne Göhlich unterstreichen die fantastischen Elemente in dieser Geschichte. Neben den Illustrationen tauchen immer wieder zwischen den Textzeilen kleine Bilder von fliegenden Blättern und neugierigen Eichhörnchen auf.
    Wenn das Spiel beginnt, lassen die Kinder ihrer Fantasie freien Lauf. Anna Herzog wechselt kurzzeitig in den Konjunktiv. Dann können sich die jungen Leser das so ähnlich oder auch ganz anders vorstellen.
    "Dieser Zaun hier wäre eine ganz alte Dame. Eine schlecht gelaunte alte Dame, denn sie quietscht und rumpelt, dass man es kaum glauben kann.
    Aber jetzt darf die alte Dame allein vor sich hinrumpeln, denn Ami hängt schon am nächsten Zaun, der nur eine verzauberte Prinzessin sein kann. Er ist so seidig frisch gestrichen und so voller Kringel und Spitzen, dass es nur so funkelt.
    Bestimmt knurrt die alte Dame die Prinzessin immer an, wenn niemand hinschaut.
    Ami beschließt, dass sie Frau Hetzler heißt und die arme Prinzessin am ehesten Wassilissa, die Wunderschöne. Sie streichelt Wassilissa über ihre Spitzen und der Zaun seufzt etwas, und die verwunschene Wassilissa flüstert Ami ihre Geschichte zu, während Ami sich an ihr entlang hangelt."
    Alle Probleme verhandelt Ami mit sich selbst oder sie fragt ihre große Schwester um Rat. Anna Herzog gibt den Erwachsenen in ihrer Geschichte eine sehr zurückhaltende Rolle. Damit schafft sie Freiraum für die Entfaltung der Kinder. Die Kinder müssen überlegen, ob die Mauer vielleicht zu hoch oder der Kanal zu breit ist, um ihn zu überqueren. Sie machen ihre Erfahrungen selbst und das macht die Kinder stark. Und wenn es mal besonders schwierig ist, hilft die Magie.
    Buchinfos:
    Anna Herzog: "Ein Lob auf den Herbstwind", 133 Seiten gebunden. erschienen im Ravensburger Verlag, empfohlen ab 8 Jahren, Preis: 12,99 Euro