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"Kafka. Die frühen Jahre"
Jetzt schon ein Klassiker

Mit "Kafka. Die frühen Jahre" hat Reiner Stach eine umfassende biografische Studie über den österreichischen Schriftsteller vorgelegt. 18 Jahre hat er an dem Mammutwerk gearbeitet, das Lebensroman, Werkbeschreibung und Mentalitätsgeschichte zugleich ist.

Von Ulrich Rüdenauer |
    Undatiertes Porträt des Schriftstellers Franz Kafka.
    Undatiertes Porträt des Schriftstellers Franz Kafka. (picture-alliance / dpa / CTK)
    Mitte der Neunzigerjahre fasste Reiner Stach den kühnen Plan, eine groß angelegte Studie über das Leben Franz Kafkas zu schreiben. Eine relevante, umfassende biografische Darstellung gab es zu diesem Zeitpunkt erstaunlicherweise nicht. Klaus Wagenbachs Jugendbiografie war fast vierzig Jahre alt, zudem vergriffen. Dafür hatte die Forschung zu Kafka sich inzwischen krakenhaft jedes Details bemächtigt - kein Satzzeichen in einem Kafka-Text, das nicht in einer Doktorarbeit interpretiert worden wäre. Stach ließ sich von dieser riesigen Sekundärliteratur-Bibliothek allerdings nicht einschüchtern. 18 Jahre, drei Bücher und 2.000 Seiten später ist das Mammutwerk abgeschlossen: Mit Erscheinen des letzten, chronologisch betrachtet aber ersten Bandes hat Stach eine der imposantesten Arbeiten der Biografik überhaupt geschaffen.
    "Im ersten Moment glaubt man nicht, dass man es hinter sich hat nach 18 Jahren. Das ist ein derart tiefer Einschnitt. Das ist wie so ein Selbstläufer. Am ersten Tag nach Vollendung des Manuskripts saß ich pünktlich am Schreibtisch, ohne genau sagen zu können, warum eigentlich. Aber jetzt ist natürlich die Erleichterung überwiegend, das ist ja klar."
    Die Erleichterung Reiner Stachs dürfte auch deshalb groß sein, weil das Projekt trotz einiger Hürden doch zu einem glücklichen Ende geführt wurde: "Die frühen Jahre" behandelt Kindheit und Jugend, die Studien- und ersten Berufsjahre Kafkas bis ins Jahr 1910. Stach hatte diesen Band aufgeschoben - in der Hoffnung, noch Einblick in den Nachlass von Max Brod erhalten zu können. Von diesem versprach sich der Biograf einige Details über den jungen Kafka; zu den frühen Jahren ist die Materiallage nämlich ausgesprochen dürftig. Die Querelen und Streitigkeiten um den Nachlass Max Brods, die sich noch auf Jahre hinziehen dürften, haben Stach nun aber doch bewogen, nicht länger mit dem Verfertigen des dritten Bandes zu warten. Wie aber gelingt es, eine Vorgeschichte so nachzureichen, dass sich schließlich alles mit den anderen Teilen verfugt und keine holprigen Übergänge und Doppelungen entstehen. Reiner Stach:
    "Manche haben mir prophezeit, dass das nicht funktionieren kann. So, wie wenn Sie ein Haus bauen und die Fundamente als letztes legen. Ich musste einfach sehr langfristig planen. Um mal ein Beispiel zu nennen: Als ich den "Brief an den Vater" ausgewertet habe, der 1919 verfasst wurde, da habe ich natürlich einige Dinge zurückstellen müssen, weil ich schon von vornherein wusste, diese Information, die Kafka hier liefert, über seine Kindheit, die werde ich dann später in dem Band "Die frühen Jahre" benötigen. Zum Beispiel das Verhältnis zum Judentum, das da in der Familie herrschte. Das musste man einfach langfristig planen, um das in den Griff zu bekommen."
    Verhältnis zum Vater als Urquell literarischer Produktivität
    Die Familie, die Herkunft von Vater und Mutter, die Konstellationen innerhalb dieses Gefüges spielen in der Beschreibung der frühen Jahre Kafkas eine gewichtige Rolle.
    "Mein Problem als Biograf war es natürlich jetzt zu zeigen, wie er das bewältigt hat und wie er damit umging. Es genügt ja nicht zu sagen, Kafka war Neurotiker, Kafka hat unter dem Ödipus-Komplex gelitten, oder Kafka war das typische einsame Kind, sondern was die Sache jetzt wirklich interessant macht, und da beginnt ja die Arbeit des Biografen eigentlich erst, dass man zeigen muss, wie wurde aus diesem geknechteten oder einsamen Kind, wie wurde dann diese Superbegabung Franz Kafka. Zwangsneurotiker gibt es viele auf der Welt. Jemanden mit so einem Etikett zu versehen, das bringt uns nicht weiter."
    Das äußerst problematische Verhältnis zum Vater, dem Patriarchen der Familie, das sich als Kampf zweier psychisch und physisch ganz unterschiedlich disponierter Figuren deuten lässt, wird bei Stach stringent als Urquell der literarischen Produktivität Kafkas beschrieben:
    "Er hat zum Beispiel als Kind schon sehr früh eine Art Defensivsystem entwickelt. Sie können sich das so vorstellen: Wenn man einen Vater hat, der sehr bedrohlich ist und der auch unberechenbar ist und wo man oft mit Interventionen rechnen muss, wenn man gar nicht darauf gefasst ist und gar nicht weiß, was habe ich denn jetzt schon wieder verbrochen - dagegen kann man sich teilweise schützen, indem man lernt, diesen Vater außerordentlich genau zu beobachten, also seine Gesten, seine Worte, seine Blickrichtung und so weiter. Den kann man sozusagen in Sekunden scannen, wenn man ihn sehr gut kennt. Man lernt also als Kind Beobachtung. Und das ist nichts anderes als die Entwicklung oder die Keimzelle von Empathie. Ich glaube, diese außerordentliche Empathie, die Kafka gegenüber auch ganz fremden Menschen später gezeigt hat und die sich dann ja auch in den Texten und Tagebüchern niederschlägt, die hat Kafka als Kind gelernt. Das war nicht nur Begabung. Und er hat sie gelernt als eine Verteidigungsmaßnahme."
    Die Gabe zur Empathie geht einher mit einer geradezu vehementen Durchdringung des eigenen Tuns, einer radikalen Selbstbeobachtung.
    "Als Erwachsener sieht das dann zum Beispiel so aus: Wenn er gekränkt oder scharf kritisiert wurde - und er war gegen Kritik außerordentlich empfindlich, er war gegen alles empfindlich, aber gegen Kritik natürlich ganz besonders -, dann hat er sich dadurch zur Wehr gesetzt, dass er gesagt hat: Ihr habt völlig recht mit eurer Kritik, alles richtig, aber eure Kritik ist noch gar nichts und noch viel zu lau im Vergleich zu dem, wie ich mich selbst unter die Lupe nehme und wie ich mich selbst aburteile. Mit anderen Worten: Ich bin derjenige, der auf dem Richterstuhl sitzt, das seid nicht ihr. Und damit hat Kafka einerseits die anderen zum Schweigen gebracht, andererseits aber hat er seine Selbstachtung gewahrt angesichts der Kritik."
    Prag um 1900: Provinziell trotz urbaner Kultur
    Reiner Stach gelingt in den "Frühen Jahren" eine wunderbare Balance zwischen psychologischer Interpretation, die eine kluge Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse beinhaltet, Erzählung des Milieus, in dem Kafka aufwächst, und Analyse historischer Umbrüche, geistiger Strömungen, politischer Verwerfungen. Stach wurde schon bei den vorausgegangenen Kafka-Bänden für seine romanhafte, szenische Schreibweise gerühmt. "Historische Empathie" nennt er die Methode, ein breites, zeitgeschichtliches Panorama zu entwerfen und dann immer näher auf den eigentlichen Gegenstand zu zoomen. Durch Stachs Buch bekommt man so etwa ein sehr genaues Bild von Prag um 1900.
    "Eine ganz wichtige Komponente ist, dass die Prager Altstadt, in der die Deutschen überwiegend gelebt haben, die deutschen Juden, dass das unglaublich eng dort war. Man darf sich das nicht vorstellen nach den Maßstäben einer Großstadt. Prag war zwar eine Großstadt. Aber der Innere Ring, wo die Deutschen lebten, war sehr begrenzt. Das heißt, wenn Kafka aus dem Haus und über den Altstädter Ring ging, traf er wirklich alle 15 oder 20 Meter jemanden, den er kannte. Man konnte dort eigentlich nicht etwas völlig Neues beginnen, ohne dass man beobachtet wurde. Man konnte nicht mit einer neuen Freundin durch die Stadt gehen, ohne gesehen zu werden, darunter hat Max Brod dann sehr gelitten. Es war eigentlich provinziell, streng genommen, trotz der urbanen Tendenzen in der Kultur. Und das hatte zur Folge, dass Kafka eigentlich immer weg wollte."
    Dennoch ist Kafka - auch durch äußere Umstände gezwungen - fast bis zu seinem Lebensende in Prag geblieben. Erst 1923, ein Jahr vor seinem Tod, ging er nach Berlin. Die Bindung an Prag, an die Geschichte und das Kulturleben der Stadt, war groß - und Stach gewährt einen genauen Einblick in die Zeit, die Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen oder den Antisemitismus, der drastische Formen annehmen konnte. Wir bekommen Kenntnis von den gesellschaftlichen Umgangsformen, der Sexualmoral, den Sehnsüchten, Vergnügungen und Neuerungen der Epoche - Stach zeichnet dieses Bild farbig, lebendig, detailgetreu. Und natürlich erfahren wir einiges über das Schulsystem, unter dem nicht nur Kafka zu leiden hatte. Reiner Stach lässt - in Ermangelung authentischer Zeugnisse von Kafka - viele Zeitgenossen zu Wort kommen.
    "Ja, doch, das differenziert das Bild natürlich sehr, wenn man mehrere Stimmen hat, die sich dann zu einem Chor vereinigen. Zum Beispiel: Es war lange umstritten, wie denn eigentlich dieser merkwürdige Unterricht, den die Gymnasiasten und auch die Volksschüler damals genossen haben, wie das eigentlich auf diese Generation eingewirkt hat. Und da gibt es schon Äußerungen von Leuten, die sogar die selbe Schule besucht haben wie Kafka, wo man entnehmen kann, dass die Angst Kafkas vor diesen Anforderungen, die dort gestellt wurden - die Anforderungen waren unglaublich, also gemessen an heutigen Lehrplänen an den Gymnasien -, dass diese Angst erstens mal nicht unberechtigt war, der Druck war enorm. Und dass zweitens diese Angst von anderen Schülern geteilt wurde."
    Brod und Kafka: Eine intensive Freundschaft
    Eine lebensprägende und auch für die Kafka-Rezeption entscheidende Begegnung ist die mit Max Brod. Die beiden lernten sich am 23. Oktober 1902 bei einer Abendveranstaltung eines Kulturvereins, der "Lese- und Redehalle deutscher Studenten", kennen. Der jüngere, hoch begabte, auch sehr von sich eingenommene Max Brod wetterte an diesem Abend gegen Nietzsches Kritik an Schopenhauer, was Kafka, der Nietzsche verehrte, bitter aufgestoßen sein muss. Nachts begleitete Kafka Brod durch die Gassen Prags, sie redeten und stritten und fanden Gefallen aneinander. Es dauerte noch eine Weile, schließlich aber entstand eine intensive Freundschaft.
    "Wenn man die Tagebücher der beiden vergleicht, kann man sich kaum vorstellen, dass diese beiden so unterschiedlichen Charaktere befreundet gewesen sein sollen, ihr Lebtag sogar. Ich glaube, Brod war so eine Art Vermittler zum realen Leben für Kafka. Also, Brod hat immer wieder versucht, Kafka in Kontakt zu bringen mit Literaten, mit Verlegern, auch mit der Prager Szene, Künstlern und Musikern zum Beispiel. Aber auch so profane Dinge: Er hat ihn in Kaffeehäuser mitgeschleppt und in Weinstuben und so weiter. Er hat dafür gesorgt, dass Kafka einfach aus seiner Höhle rauskommt."
    Brod und Kafka fuhren mehrmals zusammen in den Urlaub, an den Gardasee und nach Paris, man teilte Erfahrungen und Ideen.
    "Außerdem war für Kafka wichtig, dass Brod ein sehr geduldiger Mensch war. Kafka hatte ja eine ganze Reihe von Eigenheiten, mit denen es nicht einfach war umzugehen, zum Beispiel sein Waschzwang oder seine notorische Unpünktlichkeit. Brod hat immer wieder beklagt, ich habe das in den Tagebüchern gelesen, die ja noch nicht publiziert sind, also Brod hat immer wieder beklagt, dass Kafka so negativ sei. Da steht sogar: Habe versucht, Kafka seine Depressionen auszureden. Also kann man sich schon vorstellen, wie das gelaufen ist. Brod war viel pragmatischer. Ich glaube, das war für Kafka eine wohltätige Korrektur auch, dieser Pragmatismus und dieser manchmal naiv wirkende Optimismus von Brod."
    Eine weitere, wichtige Korrektur war für Kafka die Lebensreformbewegung.
    "Das kann man jetzt im Fall Kafkas gar nicht unterschätzen, den Einfluss, den das hatte. Es war ja das Zeitalter der Nervosität, aufgrund der vielen technologischen Neuerungen natürlich auch, die eine Beschleunigung des Alltags zur Folge hatten. Kafka hat das erlebt, schon als Kind und als Jugendlicher dann, die ersten Autos, die ersten Flugzeuge, die ersten Grammophone, die Beschleunigung des Alltags durch Telefone, durch Fließbänder und so weiter. Er hat das dann als Beamter erst recht noch erlebt, als er die Fabriken besichtigt hat und die dortige Beschleunigung erfahren hat. Kafka hat große Sympathien gehegt und zunächst einmal als einer der ganz wenigen in Prag, da war er also wirklich an vorderster Front, Sympathien gehegt für die Lebensreformbewegung, die dem etwas entgegensetzen wollte. Also: mehr Naturerfahrung, Verzicht zum Beispiel auf schulmedizinische Interventionen, Verzicht auf Medikamente möglichst weitgehend, stattdessen sollte man sich gesund halten durch Bewegung, durch Licht, durch Schwimmen."
    "Die dunkle Seite der Aufklärung"
    Mit seiner nun in drei Bänden vollständig veröffentlichten Kafka-Biografie hat Reiner Stach, das lässt sich bereits jetzt sagen, einen Klassiker vorgelegt - einen stilistisch brillanten Lebensroman, eine bis ins Detail kundige Werkbeschreibung und eine aus allen verfügbaren Quellen schöpfende Mentalitätsgeschichte. Durch die Arbeit von Reiner Stach ist unser Kafka-Bild ein anderes geworden. Was, fragt man sich und Reiner Stach, soll nun kommen?
    "Kafka war ja wirklich jedes Jahr mit einer neuen technischen Innovation beschäftig. Und davon beeindruckt auch. Das Leben war sehr unruhig. Und man wusste nicht, wohin diese Fortschrittsexplosion führen würde. Selbst Leute, die fortschrittsbegeistert waren, wurde das dann auch unheimlich. Und das wiederum hängt zusammen mit der Mode des Esoterischen, des Geistersehens, das ist so ein kompensatorisches Phänomen, könnte man sagen. Dieser Zusammenhang ist mir erst in den letzten Jahren so richtig aufgegangen. Ich habe erst jetzt verstanden, wie das kommt. Das ist die dunkle Seite der Aufklärung, hängt auch mit Dialektik der Aufklärung zusammen, schönes Beispiel dafür. Mentalitätsgeschichtlich könnte man das wirklich mal ein bisschen genauer ausführen, ich glaube, das hat noch niemand so versucht, wie ich mir das vorstelle. Das wäre zum Beispiel ein Thema, das könnte ich mir vorstellen. Also, ich möchte auf jeden Fall noch in dieser Zeit bleiben."
    Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2014. 608 Seiten. 34 Euro.