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Kammermusik
Leidenschaftliche Interpretation von Szymanowski

Das in Hannover ansässige Szymanowski-Quartett schließt mit seiner neuen Platte eine Trilogie ab, die von Paris über Wien nun nach Russland führt. Gespielt werden Werke von Peter Tschaikowsky, Sergei Prokofjew, einem gewissen Myroslaw Skoryk – und natürlich vom Namensgeber selbst, dem 1927 in Lausanne verstorbenen Polen Karol Szymanowski.

Von Raoul Mörchen | 03.01.2016
    Schallplattenspieler mit Langspielplatte
    In der Neuen Platte vorgestellt: "Szymanowski Quartet: Moscow" (imago stock&people)
    Szymanowski, I. Moderato, dolce e tranquillo
    Wenn man einem Werk die Temperatur messen könnte, müsste man das zweite Streichquartett von Karol Szymanowski umgehend zum Arzt schicken. Zwar gibt es auch Momente der Ruhe, der Entspannung und Linderung, doch dann ergreift das Fieber wieder jede Phrase. Der Puls der Musik schnellt in die Höhe, man möchte ihr gut zureden und weiß doch: Das hier ist kein bloßer Anfall. Er wird nicht gleich wieder vorbeigehen, er steckt dem Werk bis ins Mark.
    Für diese schmerzhafte Diagnose muss man die Musik gar nicht mal hören, es reicht, sie zu lesen. Der Notentext sieht aus wie eine einzige Fieberkurve, und er ist vom Komponisten schwer beladen worden mit extravaganten Vortragsbezeichnungen. Sie helfen, den prekären Zustand des Patienten präzise zu erfassen: "Subito molto affrettando" steht da zum Beispiel, "plötzlich rasend", und dann wieder "calando" – "versinkend", schon kommt der nächste Schub: "avvivando" – "belebend" und "risvelgiando" –"wieder erwachend", die Musik beginnt sich aufzubäumen, "strepitoso" steht über den Stimmen, aber ganz in der Nähe dann auch wieder "plaintif" – klagend.
    Szymanowski, II. Vivace, Scherzando
    In seiner Heimat wird Karol Szymanowski oft der erste polnische Komponist der Moderne genannt. Tatsächlich weist die Harmonik in den Werken der mittleren und späten Schaffensperiode weit heraus aus der Tradition. Im zweiten Streichquartett macht sich Szymanowski gar nicht mehr die Mühe, eine Tonart vorzuzeichnen, so schnell und radikal wechseln die Harmonien, so wenig ist hier geblieben vom verlässlichen Halt in Dur und Moll und der Gewissheit, dass es irgendwo ein festes Zentrum gäbe.
    Und doch wirkt das Werk eher wie ein Abschluss denn wie ein Ausblick: Mitte der 1920er-Jahre entstanden, steckt es noch tief im Fin de Siècle: dieser eigentümlich labilen Epoche des Umbruchs, des Überschwangs, der Maßlosigkeit, der Anspannung und Neurose und fiebrigen Träume. Auch eine weniger aufregende Interpretation legte eine solche Diagnose nahe – die Einspielung des Szymanowski-Quartetts erlaubt gar keinen anderen Schluss. Die vier Streicher aus Hannover bringen die Musik bis zum Siedepunkt.
    Szymanowski, II. Vivace, Scherzando
    Wenngleich seit nunmehr 20 Jahren in Hannover ansässig, pflegt das Szymanowski-Quartett seine Wurzeln in der Heimat seiner vier Musiker, in Polen und der Ukraine. Dabei ist das gar nicht mal so einfach, beim in der heutigen Ukraine geborenen Polen Karol Szymanowski fündig zu werden, hat er doch gerade einmal zwei Streichquartette geschrieben und überhaupt die Kammermusik eher stiefmütterlich mit Repertoire versorgt. Die Szymanowskis machen das Beste daraus. Die karge Literatur haben sie in einer kleinen Serie auf drei CDs verteilt, die beiden Quartette noch angereichert um ein Duo für Violine und Klavier und das ganze eingebettet in ein ästhetisches und vor allem geografisches Umfeld, das helfen soll, den polnischen Sonderling Szymanowski besser zu verstehen. 2009 trafen wir ihn auf der erste CD in Paris, begleitet von Maurice Ravel und dem Exilpolen Szymon Laks, 2011 standen in Wien Schubert, Beethoven und Webern an seiner Seite, nun endet die Reise in Moskau.
    Tschaikowsky war zumindest nominell ein großes Vorbild für Szymanowski: Das erste Streichquartett des Russen mit seinem opulenten sinfonischem Klang und dem sentimentalen Andante legt tatsächlich eine Verwandtschaft nahe.
    Tschaikowsky, II. Andante cantabile
    Ganz anders Prokofjew. Die Idee, den kühlen Athleten ins selbe Boot zu setzen mit dem kränkelnden Polen Szymanowski, mag nicht so recht einleuchten. Gewiss, beide haben sich irgendwann einmal zum Volkslied bekannt und Volkslieder verarbeitet. Und doch: Der eine hat die alten Melodien verpackt in Samt und Seide, der andere, Prokofjew, daraus kantige Klangbilder gezimmert aus grobem Holz.
    Prokofjew, IV. Allegro
    Mag man am Ende die Dramaturgie auch nicht schlüssig finden und zudem gerne verzichten auf die seichte Zugabe, ein Stückchen Filmmusik des Ukrainers Myroslaw Skoryk – die neue Platte des Szymanowski-Quartetts ist ein großer Wurf. Denn was nicht recht zusammen passt, zwingen die vier Streicher stilistisch auch nicht zusammen. So lasziv Szymanowski sich hier räkeln darf in seiner parfümierten Musik, so sportlich und muskulös zeigt sich Prokofjew, so geschmeidig und weich ist Tschaikowsky. Der rhythmische Drive des Ensembles, seine Elastizität ist hier wie dort fantastisch. Bewegungen entwickeln sich ganz natürlich, wirken nie stumpf ausgezählt. Keine Spur von Routine, wohl aber von Erfahrung, Ernst und Leidenschaft.
    Prokofjew, IV. Allegro
    Andrej Bielow und Grzegorz Kotów, Violine, Vladimir Mykytka, Viola und Marcin Sieniawski, Violoncello – das Szymanowski Quartett spielten das Finale des zweiten Streichquartetts op.92 von Sergej Prokofjew. Der Satz ist entnommen der neuen Platte des Ensembles mit dem Titel Moskau – darauf Werke von Karol Szymanowski, Myroslaw Skoryk, Peter Tschaikowsky und eben Sergej Prokofjew. Das Album ist erschienen bei Avi-Music und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.
    Vorgestellte CD:
    Titel: Szymanowski Quartet: Moscow
    Werke von Szymanowski, Prokofjew, Tschaikowsky und Skoryk
    Label: Avi Music
    Bestellnummer: 8553860
    EAN: 4260085531608