Archiv

Sängerfest in Tallinn
"Ein religiöses Ritual"

Vor 30 Jahren, am 23.8.1989, erlebte die "Singende Revolution" im Baltikum ihren Höhepunkt. Eine 600 km lange Kette singender Menschen erstreckte sich von Vilnius bis Tallinn. Die Esten sagen, sie hätten sich zur Freiheit gesungen. Singen ist ihnen wichtig, und das Sängerfest hat religiöse Züge.

Von Benedikt Schulz |
Kinder in Trachten beim Sängerfest in Tallinn, Estland am 06.07.2019
Doch die Sängertradition ist für viele Esten Teil ihrer nationalen Identität (imago images / Scanpix / EESTI MEEDIA / MIHKEL MARIPUU)
In der Altstadt von Tallinn liegt der Toompea, der Domhügel – Sitz des Riigikogu, des estnischen Parlaments. An diesem Abend wandern hunderte Menschen, teils in Volkstrachten den Berg hoch Richtung Riigikogu und singen. Die estnische Dirigentin Heli Jürgenson stimmt die Lieder an, der junge Nachwuchsdirigent Valter Soosalu trägt eine fast zwei Meter lange Fackel. Das Laulupidu steht bevor, das alle fünf Jahre stattfindende Sängerfest – und die estnische Hauptstadt bereitet sich darauf vor: mit einer Prozession, einem Fackellauf.
Einer der Ecktürme des Riigikogu ist besonders berühmt, der Pikk Hermann, der Lange Hermann. Zweimal täglich ist er der Schauplatz eines Rituals. Die estnische Flagge wird jeden Morgen gehisst und abends wieder eingeholt. Jeden Abend läuft ein Auszug aus dem berühmten Lied "Mu isamaa on minu arm" des estnischen Komponisten Gustav Ernesaks.
"Botschaft einer Gemeinschaft an sich selbst"
An diesem Abend jedoch hat das Ritual eine besondere Bedeutung: Der Präsident des estnischen Parlaments nimmt die Fackel entgegen und lässt sie in den Pikk Hermann tragen, wo sie über Nacht bleibt. Seit Wochen wurde die Flamme durch das ganze Land getragen. In den kommenden Tagen wird sie – ähnlich wie beim Olympischen Feuer - zum Lauluväljak, zur Sängerwiese gebracht und dort bis zum Ende des mehrtägigen Festes gut sichtbar auf einem Turm Tag und Nacht brennen.
Ähnlich dem Olympischen Feuer brennt die Flamme am Lauluväljak, der Sängerwiese, während des mehrtägigen Festes. Tallinn, 06.07.2019
Ähnlich dem Olympischen Feuer brennt die Flamme am Lauluväljak, der Sängerwiese, während des mehrtägigen Festes (imago images / Scanpix / MIHKEL MARIPUU / EESTI MEEDIA)
"Es geht nicht nur um das Konzert, die Musik. Es ist eine Botschaft, es ist ein Ritual. Jedes kulturelle Ritual ist eine Botschaft einer Gemeinschaft an sich selbst. Das Ritual ist nicht für Außenstehende, es ist keine Performance."
"Die halbe Nation teilt diese Erfahrung"
Marju Lauristin ist eine der wichtigsten Figuren der estnischen Unabhängigkeitsbewegung Ende der 80er-Jahre. Sie hat nicht nur die Singende Revolution selbst erlebt und aktiv mitgestaltet, die promovierte Sozialwissenschaftlerin hat die Bedeutung des Laulupidu für die estnische Gesellschaft in einem aktuellen Forschungsprojekt untersucht.
"In einer repräsentativen Umfrage haben wir Leute zwischen 15 und 90 Jahren gefragt, was sie mit dem Sängerfest verbinden. Das Ergebnis hat selbst uns überrascht. 48 Prozent der Befragten haben bereits als Sänger daran teilgenommen. Heißt also, die halbe Nation teilt diese Erfahrung, auf diese Art miteinander verbunden zu sein. Auf die Stimmen der anderen zu hören, mit ihnen harmonisch zu klingen. Vor 150 Jahren hat diese Tradition begonnen, und in all diesen Jahren haben all diese Menschen die gleichen Erfahrungen geteilt."
Rund 23.000 Sängerinnen und Sänger
Der Lauluväljak, die Sängerwiese liegt am nordöstlichen Stadtrand von Tallinn, nahe der Ostsee. Die beeindruckende Laululava, die Bühne, ist wie eine gewaltige Muschel geformt und funktioniert dadurch wie ein riesiger, natürlicher Verstärker. Die Wiese steigt nach hinten hin leicht an, was den Effekt eines Amphitheaters erzeugt, was auch an Massengottesdienste bei Kirchentagen oder Papstmessen denken lässt. Nicht bei allen Liedern stehen alle der rund 23.000 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne. Der rasche Wechsel der unterschiedlichen Besetzungen ist ein organisatorischer Kraftakt.
Sängerfest Tallinn
Die Bühne wirkt durch ihre Form wie ein riesiger Verstärker (Deutschlandradio / Benedikt Schulz)
Die stundenlangen Konzerte folgen strengen Regeln, vor jedem Lied werden die Namen von Komponisten und Dirigenten genannt. Die Dirigenten werden dabei wie Stars gefeiert. Viele der Lieder – wie das des 1991 geborenen Rasmus Puur "Maa, mida armastan!", auf Deutsch: "Das Land, das ich liebe", handeln vom Vaterland, von der Sehnsucht nach der Heimat, vor allem aber immer wieder: von der Schönheit der estnischen Natur.
Schauplatz der Singenden Revolution
Das Laulupidu ist dabei keine Folklore-Veranstaltung, ganz im Gegenteil. Neben alten Liedern stehen in der Mehrzahl neue Kompositionen. Schon das erste Sängerfest vor 150 Jahren habe ein künstlerisch anspruchsvolles Repertoire gehabt, sagt die estnische Sozialwissenschaftlerin Marju Lauristin.
Menschen stehen mit Flaggen entlang einer Straße in Estland - ein Teil der mehr als 600 Kilometer langen Menschenkette durch die drei baltischen Republiken Lettland, Litauen und Estland im Jahr 1989. 
Im Jahr 1989 demonstrierten Hunderttausende in einer mehr als 600 Kilometer langen Menschenkette singend für Unabhängigkeit von der Sowjetunion. (dpa / picture alliance / Novosti)
Der Lauluväljak, die Sängerwiese, ist ein wichtiger Schauplatz der Singenden Revolution. Hier kamen in den Monaten Juni bis September 1988 immer wieder tausende Menschen zusammen, um estnische Lieder zu singen, um die estnische Fahne zu schwenken. Etwas, was während der Zeit der sowjetischen Okkupation verboten war – in der Endphase der Sowjetunion aber möglich wurde. Das Sängerfest ist der sichtbarste Ausdruck dafür, welche Bedeutung das Singen für die Esten auch in der Gegenwart noch hat. Esten gelten im Allgemeinen als zurückhaltend, introvertiert, als wenig emotional. Doch auf dem Laulupidu erlebt man sie völlig anders. Wenn die Sängerinnen und Sänger "Mu isamaa on minu arm" singen, laufen ihnen die Tränen das Gesicht herunter. "Mu isamaa on minu arm", zu Deutsch: "Mein Vaterland ist meine Liebe" ist Estlands inoffizielle Nationalhymne und das zentrale Lied, das jedes Sängerfest seit Jahrzehnten beschließt.
"Es ist wie ein religiöses Ritual"
"Das Sängerfest ist wirklich ein Zusammenkommen des estnischen Volkes", sagt Sigrid Parts.
Sie unterrichtet an einer Wirtschaftshochschule in Tallinn.
"Wenn man sonst sagt, Esten sind sehr individualistisch, nicht sehr sozial, beim Singen, das ist wirklich etwas, was uns zusammenbringt, was wir alle gemeinsam verstehen. Wo wirklich alle ihre Seele öffnen und wo man machen kann, was unserem Volk ureigen ist, das Singen."
Das Singen verbindet Generationen – und das Ritualhafte des Laulupidu, das gemeinschaftsstiftende Potenzial ist etwas, was die Religionsgemeinschaften im Land niemals erreicht haben. Es geht über Nationalismus hinaus und trägt selbst religiöse Züge.
Chorgruppen bei der Parade des Sängerfestes 2019 in Tallinn, vorne Frauengruppe in Trachten
Die Esten sind stolz auf ihr Land und seine Traditionen (Deutschlandradio/ Benedikt Schulz)
"Das Sängerfest ist eigentlich kein Chorfest. Es ist ein religiöses Ritual."
Sagt der 1988 geborene estnisch-kanadische Komponist Riho Esko Maimets. Er hat für das Laulupidu 2019 das Lied "Mu arm", komponiert, basierend auf einem Gedicht des estnischen Dichters Ernst Enno.
"Ernst Enno ist mein Lieblingsdichter, gerade weil er so tief spirituell ist. Und sehr religiös in der Art, wie er über die Natur, über Gott, über das Leben spricht."
Spiritualität in einem atheistischen Land
Estland gilt gemeinhin als atheistisches Land. Zwar ist die lutherisch-evangelische Kirche seit Jahrhunderten in der Region der heutigen baltischen Staaten präsent, aber vor allem in Estland spielt Religion laut Statistiken praktisch keine Rolle.
"Ehrlich gesagt, glaube ich, diese Statistiken sind bedeutungslos. Nur weil du eine Kirche hast, weil du Christ bist, getauft bist, das alles sagt nichts darüber aus, ob du religiös bist oder nicht. In meinen Augen sind Esten ein tief spirituelles Volk. Sie gehen in den Wald um zu beten, sie haben eine Beziehung zur Natur, zum Meer, sie singen über die Natur, sie schreiben Gedichte darüber. Estland ist also im Gegenteil ein religiöses Volk.
Das Sängerfest hat auch mit Politik nichts zu tun, es ist religiös, es ist ein zutiefst heiliges Fest. Gestern, als ich der Musik zugehört habe, hatte ich den Gedanken: Näher kommt man nicht ran an das, was es heißt, Este zu sein. Die Art wie der Klang vibriert - das ist die tiefste Essenz dessen, was uns Esten ausmacht. Es ist nicht politisch, es ist vielmehr wie ein Altar, an dem die Leute die Kommunion empfangen."