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Keine Brücke zwischen den Ufern

Der auf schwule Literatur spezialisierte Männerschwarm-Verlag hat sich zu seinem 15. Jubiläum ein Experiment ausgedacht: Zehn heterosexuelle Autoren beiderlei Geschlechts sollten Kurzgeschichten über homosexuelle Beziehungen schreiben. Mehr als Kratzen an der Oberfläche kam jedoch nicht heraus.

Von Wera Reusch |
    "Eine Zeit lang traf ich ihn oft, manchmal jede Woche im Edeka an der Paradiesstraße. Er prüfte das Gemüse, Obst, kaufte Käse, Butter, Wein. Keine spektakulären Sorten oder gar Lagen, die gab es in diesem Supermarkt nicht. Mittelgroß, dünnes Haar, rötlich braun, wenn es denn nicht, wie ich vermutete, gefärbt war, der große Kopf schien von einer Last nach vorn gebeugt, hängende Schultern, eine Schreibtischhaltung."

    Uwe Timm über seinen Schriftstellerkollegen Wolfgang Koeppen. In einem Essay schildert Timm nicht nur Begegnungen beim Einkaufen, sondern auch, wie ihn die Bücher Koeppens prägten, da er hier erstmals auf rebellische schwule Protagonisten stieß. Der Text findet sich in der Anthologie "Schwule Nachbarn", die – obwohl monothematisch – formal sehr vielfältig ist. Die Bandbreite reicht von literarisch anspruchsvollen Geschichten bis hin zu leichter Kost. Neben autobiographisch geprägten Beiträgen enthält der Band klassische Kurzgeschichten, aber auch Texte, die sich einer klaren Einordnung entziehen. So beteiligte sich Feridun Zaimoglu mit einem Dialog türkischer Jungs über schwulen Sex, und Tina Uebel erzählt ein Coming-Out aus jugendlicher Perspektive:

    ""Dass er Ben anfasst, geschieht notwendigerweise, aus der Richtigkeit und Leichtigkeit, die alles hat und in der nichts verkehrt sein kann, was sich so gut anfühlt. So gut, wie Ben sich anfühlt. Und als Ben aufspringt und ihn anschreit, begreift Finn, um den herum alles flüssig ist, warm und Musik, erst gar nicht, dass das wirklich passiert. Ben schreit. Warum bloß. Er schreit, spinnst du, Mann, er schreit, du bist ja nicht mehr ganz dicht, er schreit, pass bloß auf, du Arschloch, er schreit, bist du pervers oder was.""

    Pubertätsdramen sind Gegenstand mehrerer Beiträge. Ein weiterer Schwerpunkt sind Begegnungen mit schwulen Nachbarn im wörtlichen Sinne: So sind die Protagonisten bei Christine Wunnicke, Ulrich Woelk und Alexander Posch heterosexuelle Männer, die von Neugier getrieben sind. Unter allen möglichen Vorwänden dringen sie in die Wohnungen ihrer schwulen Nachbarn ein, um verräterische Indizien zu finden. Doch der vermeintliche Darkroom im Wohnzimmer entpuppt sich als Spielecke eines Hundes, das Badezimmerschränkchen enthält wider Erwarten nur Aspirin und Nasenspray, und auch das nachbarliche Schlafzimmer erweist sich als völlig unspektakulär: Auf den Nachttischen liegen Bücher und Lesebrillen.

    Im besten Falle sind die Vorurteile und Berührungsängste heterosexueller Männer in den Texten treffend und selbstkritisch dargestellt. So zum Beispiel auch in Peter Stamms Beitrag über eine Kneipenbekanntschaft in New York, die damit endet, dass dem heterosexuellen Ich-Erzähler eine Mitfahrgelegenheit angeboten wird:

    ""Dylan bog in eine Seitenstraße ein. ‚Ich muss nicht da runter’, sagte ich. ‚Das ist der falsche Weg.’ Dylan lachte. ‚Hast du Angst vor mir?’, fragte er. Ich schwieg. ‚Ich wende nur den Wagen’, sagte er. ‚Hast du vor den Frauen auch solche Angst?’ ‚Ich weiß nicht…ich denke nicht.’""

    Während die männlichen Autoren überwiegend Gefühle der Bedrohung und Verunsicherung beschreiben, dominiert in den Texten der Autorinnen Mitleid und Bewunderung:

    ""Niemand konnte zuhören wie Karl"",

    heißt es bei Ursula Fricker über einen Musiker.

    Auch bei Barbara Frischmuth, Judith Kuckart und Kerstin Hensel sind die schwulen Protagonisten feinsinnig und kulturbeflissen, es sind jedoch durchweg einsame, wenn nicht tragische Figuren, die im Zweifelsfalle nicht zu ihrer sexuellen Orientierung stehen können oder von jugendlichen Liebhabern verlassen werden. Damit ist das zentrale Problem dieser Anthologie benannt. Trotz aller Heterogenität der Texte lässt sie sich doch auf einen simplen Nenner bringen: Aus heterosexueller Perspektive geht Homosexualität entweder mit existenziellen Konflikten einher oder sie wird auf Lifestyle-Accessoires reduziert.

    Den schwulen Figuren fehlt es an Widersprüchlichkeit und Tiefe, normaler Alltag oder Liebesbeziehungen sind völlig ausgespart, Sexualität wird nur im Zusammenhang mit Coming-Out-Dramen thematisiert. Allenfalls bei Sabine Peters, Regula Venske und Dorothea Dieckmann finden sich Ansätze zu einem spielerischen Umgang mit sexueller Identität. Insgesamt scheint das Motto zu sein: Bloß nichts falsch machen. Man muss den Autorinnen und Autoren zugute halten, dass sie sich überhaupt an diesem Band beteiligten. Wobei die Beiträge von Ingo Schulze und Bodo Kirchhoff bereits anderweitig publiziert wurden und nichts mit "Schwulen Nachbarn" zu tun haben. Bei Schulze geht es um zwei alte Freundinnen, und Kirchhoffs Erzählung über die Ermordung eines pädophilen Religionslehrers ist in diesem Rahmen völlig deplaziert. In seinem Nachwort schildert Herausgeber Detlef Grumbach, dass er auf seine Anfrage zahlreiche Absagen erhielt:

    "’Keine Idee. Ich kann nicht’, so begründet einer der angeschriebenen Autoren, der hier nicht vertreten ist, kurz und knapp seine Absage. ‚Ich fühle mich nicht zuständig’, so schreibt ein weiterer und repräsentiert mit dieser Aussage keine Minderheit. Ist der Begriff der ‚Zuständigkeit’ überhaupt tauglich, wenn es um eine literarische Fragestellung geht? Wer von vornherein bestimmte Möglichkeiten ausschließt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht das betreibt, was gelegentlich abschätzig ‚Bindestrich-Literatur’ tituliert wird – in diesem Fall ‚Heterosexuellen-Literatur’."

    Schwule Figuren sind kein selbstverständlicher Bestandteil heterosexueller Literatur. Auch dieser Anthologie gelingt es nicht, den Gegenbeweis anzutreten. Was nicht heißt, dass solche Experimente nicht zu begrüßen sind. Sie können ein Anstoß sein, das Problem der Bindestrich-Literatur langfristig zu überwinden. Homosexuelles Leben gibt der Band zwar nur unzureichend wieder, er reflektiert aber zumindest heterosexuelle Reaktionen auf schwule Männer. Als typisch kann Alexander Poschs Protagonist gelten, der sich plötzlich der eigenen sexuellen Identität vergewissern muss, als er die schwulen Nachbarn auf der Straße trifft:

    ""Wir wünschen uns einen guten Abend. Dann kommt der schönste Moment: Im Dunkel nimmt meine Frau meine Hand. Nur sie und ich, niemand, der etwas davon mitbekommt. Diese schmale, kühle Hand, mit der sie mich schon tausendmal gefasst hat.""

    Detlef Grumbach (Hg.): Schwule Nachbarn
    22 Erlebnisse. Männerschwarm Verlag, Hamburg 2007, 256 Seiten, 18,80 Euro.