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Keine Zeit zum Trauern

Trond Blattmann hat auf Utoya seinen Sohn verloren. Aber ganz allein bei ihm auf dem Friedhof – dafür fehle ihm noch die innere Ruhe. Er ist als Sprecher der Hinterbliebenen aktiv. Damit, dass er diese Aufgabe übernommen habe, habe er das Erbe seines Sohnes angetreten.

Von Tim Krohn |
    "Mit Lille Land", mein kleines Land – mit zittriger Stimme sang Maria Mena bei der Trauerfeier im Osloer Dom vor einem Jahr diese Liebeserklärung an Norwegen. Das Lied kennt hier jeder. Es sei, sagen die Osloer, die beste Therapie gegen den Schmerz - immer dann, wenn es schwer zu werden droht, bei Anders Breiviks Aussagen vor Gericht etwa oder jetzt am Jahrestag .

    Die Norweger singen gern. So wie im April. 40.000 kamen da spontan zusammen, um ein altes Kinderlied anzustimmen. "Kinder des Regenbogens" von Pete Seegers war schon immer beliebt. Zur Hymne wurde es aber erst, als Breivik das harmlose Liedchen vor den Richtern als Beispiel "marxistischer Hirnwäsche" bezeichnete.

    Das Singen, die Blumen, die richtigen Worte – Norwegens Umgang mit der Katastrophe hat die ganze Welt beeindruckt. Auch Emma Martinovic, die Utoya überlebt hat, ist stolz darauf. Trotzdem, sagt sie, manchmal möchte sie auch ganz anders sein:

    "Ich wünschte, jemand könnte einen Knopf in mir drücken, dass ich endlich mal völlig zusammenbrechen und völlig hysterisch losheulen und alles rauslassen könnte."

    So wie der 18-jährigen Emma geht es vielen. Der Staat hat deshalb flächendeckend in ganz Norwegen die therapeutische Betreuung der Opfer übernommen. Fachleute wie die deutschstämmige Psychologin Renate Grönvold Bugge kümmern sich um Emma und die anderen. Und – es gibt noch sehr viel zu tun.

    Grönvold Bugge: "Viele haben Schwierigkeiten. Das Thema war immer in den Nachrichten. Man kam davon gar nicht los. Wir haben viele Menschen beraten, wie man sich davor schützt, dass man nicht alles mitmacht. Das wird ja immer ein Teil vom Leben sein."

    Trond Blattmann hat alles mitgemacht. Während des Breivik-Prozesses stand er beinahe jeden Tag selbst vor der Kamera. Blattmann ist der Sprecher der Hinterbliebenen. Aber selbst ihm fällt es schwer, sich immer wieder zusammenzureißen:

    "Die Welt denkt jetzt wieder an Milch und Brot. Aber wir sind ein wenig in der Zeit hängen geblieben. Und das hier ... naja, es ist ein Versuch, mit der Zeit mitzukommen, jedenfalls Schritt für Schritt."

    Trond Blattmann hat auf Utoya seinen Sohn verloren. Aber so ganz alleine bei ihm auf dem Friedhof – dafür fehle ihm immer noch die innere Ruhe, sagt er:


    "Es gibt mir sehr viel, dass ich für die anderen Eltern sprechen darf. Denn ich glaube, wenn mein Sohn nach Hause gekommen wäre und mich jemand gebeten hätte – da hätte er wohl gesagt: Papa, das ist wichtig! Das musst du machen ... Für mich ist das sein Erbe."

    Einige stürzen sich in Arbeit, andere ducken sich weg. "Ich will nicht, dass Anders Breivik noch mehr von meiner Zeit in Anspruch nimmt", sagt zum Beispiel Robert Christensen aus Dramme. Den Prozess gegen den Attentäter, der seine Tochter erschoss, hat er kaum verfolgt, schon gar nicht im Gerichtssaal. Zeitungen lesen, ja, das tut er schon. Mehr aber nicht.

    Gleich in seiner Nachbarschaft lebt Vanessa Svebakk und sie geht nach dem Tod ihrer Tochter einen ganz anderen Weg:

    "Über sie zu sprechen, bedeutet für mich, dass ich sie am Leben erhalte. Es gibt aber noch einen anderen Grund. Ich habe noch zwei jüngere Kinder. Noch sind die zu jung, um zu wissen, was da alles geschehen ist. Aber später mal – in fünf oder zehn Jahren – werden sie viele Fragen haben. Was war da geschehen? Wie ist die Schwester gestorben? Wer war der Täter und was geschah bei der Gerichtsverhandlung?"

    Eivind Dahl Thoresen hat großes Glück gehabt. Sicher: am 22. Juli in Oslo war er zur falschen Zeit am falschen Ort. Sein Oberarm ist voller Operationsnarben. Sein linkes Bein will nicht mehr so richtig. Aber Eivind lebt. Und strahlt das auch aus:

    "Es ist schon viel besser. Es geht jeden Tag vorwärts. Wir erleben doch, dass die Menschen zusammenhalten und sich helfen. Und das ist gut."

    Der 26-Jährige verbringt seine Tage zwischen Hometrainer, Freunden und Rehaklinik. Über die Bombe will er nicht mehr sprechen, viel lieber über die Leute, die ihm vor einem Jahr das Leben gerettet haben. Es waren norwegische Einwanderer aus dem Irak.

    "Mein kleines Land" heißt es in dem Lied: "Ein kleiner Fleck, eine Handvoll Frieden, hingeworfen zwischen Felsen und Fjorde."

    Lara Rashid ist erst 16, sie hat Utoya überlebt und mag diesen Song. Gerade heute:

    "Wir Menschen sind viel stärker, als wir denken. Hätte mich vorher jemand gefragt, wie ich damit umgehen würde, wenn so etwas passiert – da hätte ich gesagt: Ich würde nicht weiterleben können. Aber wenn es passiert, hast du keine Wahl. Das Leben geht einfach weiter."

    Links bei dradio.de:

    Norwegen ein Jahr nach dem Terror - Schriftsteller Erik Fosnes Hansen über die Folgen der Terroranschläge