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"Kinder brauchen Monster"

Gruselwesen in der Literatur haben schon lange Konjunktur. Auch in den Kinder- und Jugendbüchern gibt es Werwölfe, Zombies oder Vampire. Sogar im Bilderbuch findet man sie: Hier dienen besiegbare Monster als Repräsentanten von Anarchie und Trotz, als Mittel zur Angstbewältigung oder auch als Verkörperung von Sehnsüchten.

Von Anna Tollkötter |
    Sarah und ihr kleiner Bruder Louis machen eine Fahrradtour durch den Wald. Doch dort wartet ein großes, zotteliges braunes Monster auf sie. Es hat ein riesiges Maul und viele spitze Zähne. Und – es verschluckt Louis.

    Sarah blieb ganz ruhig. Sie wusste, dass Schluckster ihre Beute normalerweise an einem Stück verschlingen. Wenn sie sich beeilte, bekam sie Louis vielleicht wieder frei.

    "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde", heißt das Bilderbuch des britischen Schriftstellers John Fardell, und es ist weniger gruselig, als der Titel vermuten lässt. Denn die fünf Monster, die darin auftauchen, sind zwar riesengroß, aber fast allesamt rund, ein wenig tollpatschig und haben ein Lächeln im Gesicht. Dass sie sich nach und nach gegenseitig verschlingen, beeindruckt Sarah nicht. Stattdessen verfolgt sie sie unbeirrt durch Wald, Wasser und Gebirge, um ihren Bruder zu retten.

    Ihre Abenteuerreise ist spannend - ohne dass der Leser sich tatsächliche Sorgen um Sarah und Louis machen muss. Im Fachjargon ist hier die Rede von der sogenannten Angst-Lust, so Mareile Oetken, Wissenschaftlerin im Bereich Kinder- und Jugendliteraturforschung an der Universität Oldenburg:

    "Die Lust muss größer sein als die Angst. Wir begeben uns in eine Situation, die nicht geheuer ist, die wir nicht überblicken können, und wir empfinden große Spannung, weil es eben so unbekannt ist, und da gibt es aber feine Kippmomente, wo dann die Angst zu groß ist, und die Lust daran, dieser Spaß an dieser Angst, der geht zu weit zurück. Dann kippen diese Phänomene. Damit arbeitet der Struwwelpeter schon, einzelne Bilderbücher arbeiten mit Angst-Lust, es gibt ja ein ganzes Sortiment an Monster-Bilderbüchern, "Ich komm dich holen" von Tony Ross ist einer dieser Klassiker."

    "Der Tag, an dem Louis gefressen wurde" hat keine Kippmomente. Ganz im Gegenteil: Geradezu slapstickhaft wird in einzelnen Bildabfolgen das Verschlingen der Monster dargestellt, unterstrichen durch Geräuschhinweise wie "Platsch", "Schnick" oder "Schlurf". Vor allem aber ist es der Charakter der kindlichen Heldin, der der Geschichte den Schrecken nimmt.

    Zeichnerische Details wie beispielsweise ein umbaubares Fahrrad, mit dem sie die Monster verfolgt und das sie jeweils an die Gegebenheiten anpassen kann, deuten an, dass der Leser es hier mit einem Mädchen zu tun hat, das die Situation voll im Griff hat. Genauso wie ihr Bruder, der im Magen des Monsters geduldig, mit einem Buch in der Hand, auf sie wartet. Gelassenheit pur.

    "Da bist du ja", sagte er. "Ich wusste, dass du kommst. Wie finden wir hier wieder raus?" "Na, mit diesem Schluckauf-Frosch", sagte Sarah.

    Sarah und Louis haben bis zuletzt keine Angst. Sogar als es noch einmal richtig brenzlig wird, halten sie zusammen. Und das ist letztendlich das entscheidende Element für ihr Selbstvertrauen.

    Unglücklicherweise hatten die Ungeheuer jetzt allesamt einen Bärenhunger. Sie umzingelten Sarah und leckten sich die Lippen. Da brüllte Louis: "Finger weg von meiner Schwester! Oder ich fress' Euch alle auf!"

    Das Spiel mit der Angstlust findet sich in nahezu allen Bilderbüchern, in denen Monster vorkommen. So auch in einer Folge der Reihe "Pip und Posy" von Axel Scheffler. Sie trägt den Titel "Das Gruselmonster" und richtet sich an die Kleinsten: Warme Farben und klare, übersichtliche Illustrationen wecken Vertrauen. Genauso wie die Hauptfiguren der Geschichte, die kleine Maus Posy und der kleine Hase Pip - Figuren, die sowohl Mädchen als auch Jungen Identifikationen bieten. In dieser Folge wird Posy unerwartet beim Backen gestört.

    Während Posy darauf wartete, dass die Törtchen fertig wurden, hörte sie ein Klopfen am Fenster. Da war eine große struppige Hand. Posy erschrak ein bisschen. Wessen Hand konnte das bloß sein? Dann klopfte es plötzlich an die Tür. "Grrrr!", machte die Stimme. Posy hatte nun große Angst. Die Tür ging auf. Ein Monster! "RAAAA!", machte das Monster. Posy fing an zu weinen. Oh weh!

    Doch schon im nächsten Moment kann Posy wieder lachen, denn sie merkt, dass dort kein richtiges Monster steht. Dadurch bekommt sie die Situation eigenständig unter Kontrolle.

    Posys Blick fiel auf die Füße des Monsters. Sie hörte auf zu weinen. "Hallo Pip", sagte sie.

    Pip und Posy spielen nun mit dem Grusel. Abwechselnd darf jeder einmal das zottelige blau-grüne Monsterkostüm anziehen. Dass sich Axel Scheffler ausgerechnet für ein Monster als gruseliges Element entschieden hat, ist sicherlich kein Zufall. Denn Monster eignen sich außerordentlich gut für Bilderbücher, so Mareile Oetken:

    "Das hat auch einfach diese körperliche Facette, dieses Monströse, dieses Riesige, dieses Gewaltige, und darin verkörpern sich auch viele Fantasien. Der Vampir ist eine viel gelenktere Fantasie, die nicht so umfassend körperlich ist, sondern schon ne ganz bestimmte Zuschreibung hat durch diese Zähne und durch diese Nachtwesen, das hab ich im Bilderbuch wenig gesehen, das sehe ich also eher im Kinderbuch und dann auch im Jugendbuch.

    Aber im Bilderbuch dominieren wie gesagt die Monster. Zu Recht, weil mit Monstern auch ganz viel Komik verbunden ist, während die Werwölfe und Vampire sich als komische Figuren schon auch eignen, aber selten so gebrochen werden."

    Monster als komische Figuren und als fremde Wesen, die in den gewohnten Alltag von Kindern eindringen, können unterschiedliche Gestalten annehmen. In dem Bilderbuch "Wenn da nicht die Bären wären" der britischen Kinderbuchautorin Julia Jarman und der Illustratorin Lynne Chapman treten sie beispielsweise als Bären in Erscheinung.

    Wie auch in den anderen Büchern herrscht auch hier eine wohlige Grundstimmung, die keinen Gruselfaktor vermuten lässt: Die großflächigen Illustrationen sind in hellen, warmen Farben gehalten und alle Figuren haben geradezu kindchenschemenhaft runde Köpfe und große Augen. Doch der kleine Junge, der die Geschichte erzählt, ist da ganz anderer Meinung.

    Stell dir vor, bei uns zu Hause gibt es Bären auf der Treppe. Jeden Abend versperren sie mir den Weg, wenn ich ins Bett soll. Ich würde ja gehen, wenn da nicht die Bären wären.

    Die Bären erfüllen in dieser Geschichte eine Doppelfunktion. Zum einen nutzt der Junge sie als Ausrede, um nicht ins Bett zu müssen. Zum anderen hat er tatsächlich Angst davor, die Treppe zu seinem Zimmer alleine hinaufzugehen. Noch deutlicher als in den anderen vorgestellten Büchern dienen die Monster hier als Stellvertreter: Sie sind Personifizierungen dieser Ängste.

    "Ich denke, was wichtig ist, ist dieses Als-Ob-Ausleben. Wir haben da schon auch die Funktion hier stellvertretend diese Ängste auszuleben, zu probieren, sich in diese extremen Gefahrensituationen zu begeben, mit dem sicheren Wissen, dass wir im Stuhl sitzen und unser Buch haben. Denn diese Ängste sind ja da, die haben wir ja, diese Lebensängste, die Angst vor Bedrohung, die Angst vor plötzlichem Einbruch in unsere gut strukturierte Alltagswelt. Und dafür stehen diese fantastischen Figuren, und damit stellvertretend umzugehen, kann ja auch wirklich wichtig sein."

    Dem Bilderbuch mit dem Titel "Wenn da nicht die Bären wären" gelingt das auf spielerische Weise. Der Junge schafft es nicht nur, seine Angst zu bewältigen, sondern zugleich seine eigenen Fantasien für seine Zwecke zu nutzen. So behält auch er bis zuletzt die Oberhand:

    Denn jetzt passt mal auf... gleich kommen meine Bären aus ihrem Versteck und jagen Mama und Papa die Treppe hinunter!

    Monster können jedoch auch eine ganz andere Stellvertreterfunktion übernehmen: Sie können Ausdruck für Sehnsüchte von Kindern sein. So repräsentieren sie mitunter Anarchie und Trotz. In dem Bilderbuch "Monstermäßig erzogen" von Michael Fuchs und Marie Hübner wird das besonders deutlich. Hier geht es um eine Monsterfamilie, in der es zur guten Sitte gehört, laut und schmutzig zu sein. Das Monsterkind Knirps ist jedoch ganz anders als die anderen.

    "Gestern hat er schon wieder Danke gesagt", sagt King-Rülps zu seiner Frau. Sie schaut traurig auf den Boden und antwortet: "Ich weiß nicht, woher er das hat – und schau dir sein Zimmer an: Es ist total aufgeräumt." "Wir können doch nicht immer sein Zimmer unordentlich machen", brüllt King-Rülps, "das muss er irgendwann selbst lernen. Und als Schulkind muss er das können!"

    Die Monster leben hier in ihrer eigenen Monsterwelt, in der alles anders ist. So leben sie in einer eher dunkel gehaltenen Umgebung. Großflächige, markante Illustrationen mit tiefen Grün- oder Rottönen und sogar Schwarz dominieren das großformatige Bilderbuch. Die Monster repräsentieren allesamt unterschiedliche Typen, sie sind alt und jung, groß und klein, mit Haaren, Stacheln oder Hörnern auf dem Kopf.

    Die Komik entsteht zum einen durch deren Aussehen, vor allem jedoch durch die Umkehrung der bekannten Erziehungsregeln. Hier ist alles erlaubt und vor allem gewünscht, was Kinder normalerweise nicht dürfen. Das Monsterkind Knirps kann sich zwar damit bis zuletzt nicht anfreunden, aber immerhin arrangieren, indem es eine Wand beschmiert.

    "Das war mein Sohn", sagt King-Rülps und zeigt stolz auf die Wand. Und auch Die-die-alles-Umschmeißt platzt fast vor Begeisterung: "Habt Ihr gelesen RUMSAUEN NERVT hat er geschrieben – klingt das nicht krass?"

    Ob als Repräsentanten von Anarchie und Trotz, als Mittel zur Angstbewältigung, als Verkörperung von Sehnsüchten und vor allem als Auslöser von Angstlust: Besiegbare Monster im Bilderbuch haben viele Funktionen zugleich. Der amerikanische Comic-Zeichner Gerard Jones brachte es einst auf den Punkt: "Kinder brauchen Monster", schrieb er, denn "Kinder wollen sich stark fühlen".


    Literaturliste:

    Lynne Chapman und Julia Jarman: "Wenn da nicht die Bären wären". Ravensburger Buchverlag

    2012 John Fardell: "Am Tag, an dem Louis gefressen wurde". Moritz Verlag 2012

    Michael Fuchs und Marie Hübner: "Monstermäßig erzogen". Kinderbuchverlag Wolff 2012

    Axel Scheffler: "Pip und Posy. Das Gruselmonster". Carlsen 2012