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Kinderehen
"Das ist nicht meine Tochter, das ist meine Frau"

Wie sollen wir mit Kinderehen umgehen? SPD und Union haben da unterschiedliche Vorstellungen. Die Union tendiert zu einem pauschalen Verbot, während die SPD auch Ausnahmefälle zulassen will.

Von Susanne Arlt | 05.11.2016
    Eine junge Schauspielerin spielte am Wochenende bei einer Veranstaltung von Amnesty International in Rom die kleine Giorgia (10 Jahre), die dazu gezwungen wurde, Paolo (47) zu heiraten.
    Eine junge Schauspielerin spielt bei einer Veranstaltung von Amnesty International die kleine Giorgia (10 Jahre), die dazu gezwungen wurde, Paolo (47) zu heiraten. (AFP / Gabriel Bouys)
    Das Deutsch-Arabische Zentrum hat seinen Sitz in Berlin-Neukölln. Jeden Tag besuchen Syrer, Afghanen, Iraker die Einrichtung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes. In der offenen Sprechstunde erhalten sie Ratschläge und auch praktische Hilfe, damit sie sich in ihrer neuen Heimat Berlin besser zurechtfinden. Auch das Thema "Kinderehe" kommt in den Beratungen ab und an zur Sprache, sagt Leiter Nader Khalil.
    "Ich selber war in einer Beratung, wo ich demjenigen gesagt habe, ihre Tochter und er guckte mich blöd an und sagte, das ist nicht meine Tochter, das ist meine Frau. War erst mal so eine Situation wo ich erst mal schlucken musste und dann habe ich ihm gesagt, für ihre Frau ist das Jugendamt zuständig. Sorry, so geht das nicht. Er wiederum antwortet nein, ich bin für meine Frau zuständig."
    Nader schüttelt den Kopf. Natürlich habe man umgehend das Jugendamt informiert, sagt er. Was nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ist auch nicht mit Nader Khalils Gewissen vereinbar. Den Moslem ärgert aber die religiös instrumentalisierte Debatte. Kinderehen haben seiner Meinung nach keinen religiösen Hintergrund.
    "Es ist so, dass viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen aus vielen anderen Ländern, wo in der Stadt die Mädchen gebildeter sind, auch keine Angst davor haben, mit 20 nicht geheiratet zu haben. Während auf dem Lande eine eher wirtschaftliche Absicherung da ist, weil dort in diesen Gesellschaften der Mann, derjenige ist der ernährt und somit auch der Vorsteher der Familie das Sagen hat und das Bestimmen hat."
    "Wir dürfen kein Politikum daraus machen"
    Der gebürtige Libanese war selbst ein Flüchtling, ist heute ein gefragter Experte, gerade wenn es um die Probleme arabischer Familien in Berlin geht. Er engagierte sich als Lokalpolitiker, kandidierte sogar für den Bundestag – für die CDU. Dass die Union nun grundsätzlich fordert, alle Ehepaare unter 18 so zu behandeln, als hätte ihre Ehe nie bestanden, dieser Weg scheint ihm dann doch zu rigoros - und zu einfach.
    "Wir dürfen kein Politikum daraus machen, es darf nicht mit Angelegenheiten von Flüchtlingen, die zu uns geflüchtet sind, Wahlkampf gemacht werden. Wir müssen Lösungen haben, damit die Menschen sich auch hier integrieren, damit das Leben hier leichter geht. Sicherlich, wenn die Menschen sich hier in Deutschland befinden, dann gilt unser Grundgesetz. Aber wenn Menschen von außen gekommen sind, müsste man prüfen ob diese Ehen tatsächlich freiwillig geschlossen wurden oder nicht."
    Er unterstützt darum den Vorschlag von Bundesjustizminister Maas. Der SPD-Politiker hatte sich in der Debatte um die Kinderehe dafür ausgesprochen, dass im Grundsatz Eheschließungen unter 18 tabu sein sollten. In Ausnahmefällen aber - wenn es bereits Kinder gibt oder die Ehefrau schwanger ist – könne es unter Umständen sinnvoll sein, Ehen, die im Ausland im Alter von 16 bis 18 Jahren geschlossene wurden, doch anzuerkennen. Auch damit die betroffene Frau nicht komplett rechts- und schutzlos sei, so Maas. Terre des Femmes hält weder etwas von dem Vorschlag, noch etwas von dem Argument. Seit Jahren spricht sich die Frauenrechtsorganisation strikt für ein weltweites Heiratsverbot unter 18 Jahren aus. Solange das Mädchen minderjährig ist, dürfe die Ehe vom deutschen Staat nicht anerkannt werden, sagt Referentin Monika Michell.
    "Man darf uns auch nicht missverstehen, wenn wir sagen, wir fordern, dass die Ehe nicht anerkannt wird, heißt das nicht, dass wir automatisch fordern, dass die beiden müssen getrennt werden. Wir fordern keine Zwangstrennung, wir fordern keine Zwangsscheidung. Wir fordern einfach nur, dass man 18 sein muss, um so einen rechtsverbindlichen Vertrag zu schließen."
    "In der Praxis kommt das selten vor"
    Minderjährig Verheiratete müssten darum von Staats wegen als unbegleitete Minderjährige gelten. Und hätten somit einen Anspruch auf einen Vormund und Jugendhilfemaßnahmen, sagt Monika Michell.
    "Es ist ihre Entscheidung, zusammen mit dem Vormund kann sie selbst entscheiden, geht sie zur Schule, was für einen Abschluss macht sie, und das hängt dann ganz allein von ihr ab, weil sie für sich selbst bestimmen kann."
    Das aber kostet Geld. Berlin hat gerade mal 16 Plätze in Schutzeinrichtungen, die explizit für verheiratete, minderjährige Mädchen sind. Viele Jugendämter sind personell überlastet. Monika Michell befürchtet, dass bei einer Ausnahmeregelung, wie sie Maaß in seinem Gesetzentwurf fordert, der Staat seiner Verantwortung dann nicht mehr so genau nachkommt.
    Eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Berlin-Spandau. Das fünfstöckige Gebäude liegt in einem Industrieviertel. Susan Hermenau, Pressesprecherin des Wohnheimbetreibers PRISOD, hat selber zwei Jahre eine Flüchtlingsunterkunft geleitet. Die aktuelle Debatte um Kinderehen hält sie für ein Politikum. 100 Fälle soll es in Berlin geben. Sie kennt fünf davon.
    "In der Praxis kommt das sehr selten vor. Da schauen wir dann genau hin, gucken fallspezifisch drauf, inwiefern das eine Gewalt- oder Zwangssituation sein könnte. Machen aber eigentlich eher die Erfahrung, dass wir es einfach mit Paaren zu tun haben, die halt früh heiraten, die einfach auch Ehe als etwas anderes verstehen als wir das vielleicht verstehen würden."
    Ist der Altersunterschied zwischen den Ehepaaren nicht zu gravierend, hält Susan Hermenau nichts davon, diese Familien strikt zu trennen, nur weil einer der Ehepartner minderjährig ist. Zumindest dann nicht, wenn es keine Anzeichen für Missbrauch, Zwang oder Gewalt gibt, betont die Pressesprecherin.
    "Ich verstehe, dass man sehr viel jüngere Mädchen vor sehr viel älteren Männern schützen möchte. Aber ich mache hier die Erfahrung, dass man wirklich genau hingucken muss, dass man sich Zeit nehmen muss, um eine Sache abzuchecken, und sich auch in Geduld üben muss und Kraft aufwenden muss, um einfach mal auszuhalten, dass andere Kulturen andere Perspektiven haben."
    Nur eines darf die Gesellschaft beim Thema Kinderehe nicht, sagt Susan Hermenau. Das Problem einfach wegschieben, und wegschauen.