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Kindheitserinnerungen auf Pump

Sind Sie im Ausland geboren, leben schon lange in Deutschland und haben einen deutschen Freundeskreis? Doch immer wenn Ihre Freunde in Erinnerungen aus deren Kindheit schwelgen, zucken Sie nur mit den Achseln. Bei Winnetou, Biene Maja und Playmobil können Sie nicht mitreden, weil in Ihrem Heimatland andere Dinge populär waren. Damit ist nun Schluss. Ab sofort können Sie sich eine deutsche Kindheitserinnerung "ausleihen".

Von Jörg Albrecht |
    Die freischaffende Künstlerin Joanne Moar aus Neuseeland lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Bereits in ihrem Heimatland begann sie mit dem Deutschlernen und hat ihre Sprachkenntnisse seitdem perfektioniert.

    Was ihr aber fehlt, um sich noch ein bisschen deutscher fühlen zu können, das ist eine deutsche Kindheit. Genauer gesagt die Erinnerungen an diese Kindheit. Eben die Dinge, über die sich in Deutschland Aufgewachsene unterhalten, wenn sie von früher erzählen: die Lieblingsserie aus einer öffentlich-rechtlichen Fernsehzeit, Hörspielkassetten, die Spiele, die man bei einem Kindergeburtstag spielte.

    Warum eigentlich könne man sich denn nicht die Erinnerungen fremder Menschen aneignen, dachte sich die Künstlerin und bewarb sich mit ihrem Projekt "Becoming German" an der KHM, der Kunsthochschule für Medien in Köln, zum Aufbaustudiengang "Medienkunst".

    "Ich sammle Kindheitserinnerung von Leuten, die in Deutschland aufgewachsen sind. Die Kindheitserinnerungen werden denn quasi recycled und wieder ausgegeben. Also Leute, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind, können sich dann eine deutsche Kindheitserinnerung zusammenstellen."

    Ganz praktisch heißt das: Wer in Deutschland aufgewachsen ist, darf persönliche Erinnerungen aus Kindheitstagen an das Projekt "Becoming German" spenden. In eine Datenbank können die Spender dann z.B. etwas über ihre Hobbies, Lieblingsbücher oder die Erinnerungen an die eigenen Großeltern eingeben.

    "Kindergeburtstag kann ich mich auch noch an irgendwas erinnern. Man hat viele Freunde getroffen, hatte Spaß, es gab immer leckere Sachen zu essen."

    Diese Erinnerungen sammelt die Studentin entweder online oder im direkten Gespräch auf ihrer "Wanderschaft", ausgerüstet mit ihrem mobilen Infomodul. Mit diesem Modul, ein kleiner Klapptisch auf Rollen für den Laptop und zwei Hockern, zieht Joanne Moar durch deutsche Innenstädte und Bahnhöfe. Orte, an denen Passanten ein paar Minuten Zeit haben, über sich zu erzählen.

    "Mit dieser Aktion "Auf Wanderschaft gehen" versuche ich dann das Projekt ein bisschen bekannter zu machen, dass Leute einfach wissen, dass es da ist im Internet. Aber auch es ist ne Art mündliche Überlieferung. Und dann wird mir erzählt. Die Leute sind unglaublich offen und erzählen auch unglaublich gerne über sich. Also es ist auch ungewöhnlich in der Innenstadt dann über ihre Kindheit befragt zu werden."

    Erinnerungen kann man nicht nur spenden, sondern auch empfangen. Dazu
    trägt man ebenfalls einige persönliche Daten in eine Suchmaske ein und erhält dann per Wahrscheinlichkeitsrechnung ein Erinnerungsprofil. Je mehr Spender die gleichen Erinnerungen eingeben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß dem Empfänger daraus ein Erinnerungsvorschlag zusammengestellt wird. Die Künstlerin will aber nicht die eigene Biografie des Empfängers ersetzen, sondern nur Hilfestellung geben, das deutsche Gemüt ein bisschen besser zu verstehen:

    "Man kann ja keine deutsche Kindheit rekonstruieren. Es ist nur eine Idee, ein Konzept, aber wirklich geht´s natürlich nicht. Es ist die Idee, die dann wichtig ist."

    Allerdings steckt die Datenbank "Becoming German" noch in den Kinderschuhen und wird vor allem von Einträgen der "Generation Golf" versorgt, also von um 1970 Geborenen. Aber gerade die Kriegs- und Nachkriegsgeneration hätte wichtige Erinnerungen beizusteuern. Doch in dieser Altersgruppe ist die Beteiligung am "Erinnerungsspenden" noch sehr verhalten:

    "Kindheit ist nicht unbedingt etwas Positives. Also es muss nicht nur schöne Erinnerung sein und es gehören auch nicht schöne Erinnerungen dazu, darüber erzählen die Leute aber nicht so gerne. Und da muss man ein bisschen vorsichtig mit umgehen wie man das denn fragt, das ist dann eher was für zu Hause. Es gibt da aber auch eine Generationssache, also dass die keine Erfahrung mit Computern haben und das Konzept Datenbank nicht so gut verstehen, deswegen habe ich in diesem Bereich noch nicht so viele Erinnerungen sammeln können."

    Joanne Moar versteht ihr Projekt als ein "Work in Progress", also als eine noch nicht abgeschlossene Arbeit. Ganz bewusst hat sie für ihr Studium an der KHM ein Projekt gewählt, dass sie auch über Ihr Diplom hinaus weiter beschäftigen wird. Eine Arbeit, die sich die Studentin auch in einem interdisziplinären Zusammenhang, zum Beispiel mit der Soziologie, gut vorstellen könnte.
    Joan Moar sammelt Erinnerungen
    Joanne Moar sammelt Erinnerungen (Jörg Albrecht)