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Klage über den Verfall der Kultur, der Sprache, Literatur und Demokratie

Matthias Politycki ist ein unglücklicher Liberaler. Wer seine neue Essaysammlung liest, die - wie der Untertitel sagt - "bestimmte Artikel" der letzten zehn Jahre präsentiert, bekommt einen Einblick in die intellektuellen Widersprüche des Schriftstellers, der zwischen "Empörung und Resignation" angesichts des von ihm empfundenen Kulturverfalls hin und her schwankt und nicht weiß, ob er dem angeblichen Niedergang der Demokratie eher achselzuckend zur Kenntnis nehmen oder mit pädagogisch-elitären Rezepten begegnen soll.

Von Jochen Rack |
    Schon im Einleitungsessay, der den polemischen Titel trägt "Alt werden ohne jung zu bleiben", schlägt Politycki ein Grundmotiv seines politischen Denkens an: Die Klage über den Verfall der deutschen Kultur, der deutschen Sprache, Literatur und Demokratie, und erweitert: die Krise ganz Europas. Da er ohne Visionen und Utopien sei, drohe dem alten Kontinent der Abstieg. Ein Untergangsszenario und eine Dekadenzanalyse, die in die drastische Ermahnung mündet, die Zeitgenossen sollten "ihre Ärsche hochkriegen", sich politisch einmischen, weltanschauliche Position beziehen und angesichts der vorherrschenden "Mediokrität" Gegenvisionen" entwerfen.

    Politycki: "In meiner Alterskohorte ist der Skeptizismus gegenüber den Zeitläuften weit verbreitet und ein Rückzug in das private Ding, der ja schon immer bei uns sehr stark war, noch stärker geworden. Ein zunehmendes "Wir sind auf verlorenem Posten" in dieser postmodernen Gesellschaft, es gelten andere Kriterien, es wird alles schneller, bunter, oft auch lustbetonter, aber oft auch, wenn man es kritisch formulieren will, niveauloser, beliebiger, letztlich austauschbarer. Und da gibt es nicht wenige, die denken: Wir sind jetzt alt genug, woran orientieren wir uns in dieser Unübersichtlichkeit? Wo stehen wir mit unseren Gedanken?
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    "Untergangsstimmung" fühlt der Autor vor allem dann, wenn er von Asien oder Lateinamerika auf die deutschen Verhältnisse blickt. In einem 2005 geschriebenen Essay "Weißer Mann was nun?" vertritt Politycki die These, der von ihm als "Schlappschwanz" geschmähte politisch korrekte Europäer sei, weil er der Aufklärung, der "Freigeisterei und postmodernen Toleranz des "anything goes" gefolgt sei, kraftlos geworden. Politycki beschreibt seine Scham- und Schwächegefühle angesichts der "Eruptionen physischer Gewalt", wie er sie zum Beispiel bei Massenschlägereien in Indien beobachtet hat und preist im Stile Nietzsches den rohen, phallischen Willen zur Macht, den, seiner Ansicht nach, nicht nur die karibische, sondern auch die asiatische und arabische Kultur besitzen, eben weil sie nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt sind: Aufklärerische Skepsis sei die "Weltsicht von Weicheiern". -

    Politycki: "Wer reist, wird sofort feststellen, einfach empirisch feststellen, am Takt, den gewisse Metropolen vorgeben, oder auch an Kleinstorten, zu denen man mit dem Schiff oder auf dem Landwege kommt, da tobt der Bär. Und zwar nicht, weil er sich im Kreis dreht, sondern weil da wirklich etwas bewegt wird. Und es ist typisch für die Couchpotatoes unserer Kulturlandschaft, dass wir denken: nein nein, der Mittelpunkt der Welt ist hier und wir sind ganz vorne dabei. Wir sind nicht ganz vorne dabei. Das sieht man, das ist mit Händen zu greifen, gerade war ich auch wieder ein halbes Jahr unterwegs. Es ist erschütternd zu sehen, mit welcher Dynamik andere Weltregionen in die Zukunft hinein denken und wie langsam hier alles geht. Ja wie Entscheidungsprozesse aus sich heraus noch weiter befördert werden, statt die Entscheidungen endlich zu machen, und und und. Man sieht es im Stadtbild, man sieht es im Auftreten der Menschen, man sieht es an der Geschwindigkeit, mit der sie gehen, wie sie sich bewegen, und wie Gebäude in die Welt hineinwachsen in anderen Weltteilen."

    Eine äußerst einseitige Betrachtung der welthistorischen Entwicklung, denn Politycki übersieht nicht nur, dass die von ihm beobachtete vitale Kraft des Machismo und die Irrationalität des lateinamerikanischen Kultreligion mit politischer Unfreiheit und ökonomischer Unterentwicklung einhergeht. Auch in Asien, das heute wegen seines rasanten Wachstums allgemein als Herausforderung des Westens wahrgenommen wird, herrscht ein reduktionistisches Modell des Fortschritts vor, das eine bloß ameisenhafte industrielle Betriebsamkeit fördert, aber Umweltschäden und Menschenrechte schlicht ignoriert - das Schrumpfmodell einer Modernisierung, die für all jene westlichen Errungenschaften nichts übrig hat, die im Europa der letzten Jahrhunderte erstritten wurden: Achtung vor der Würde des einzelnen, Freiheit, Freizeit, Muße, Teilhabe an Bildung, Kultur und sozialer Gerechtigkeit.

    Gewiss kann man Polityckis Unbehagen an der westlichen Kultur insofern nachvollziehen, als er auf die tranzendentale Obdachlosigkeit und den Nihilismus hinweist, unter dessen Herrschaft sich Sinnfragen eben nicht mehr so einfach beantworten lassen wie in den blutigen Ritualen der von ihm bewunderten kubanischen Priester. Feste Normen und Werte bringt eine freiheitliche Kultur nicht mehr umstandslos hervor, sondern operiert mit dem altsokratischen Medium des Zweifels und zieht gerade aus der Infragestellung aller Gewissheiten ihre Stärke, und das bedeutet auch: den Geist ihrer wissenschaftlichen Innovation, in der nicht mehr die Muskelkraft, sondern das Köpfchen zählt.

    Politycki aber sucht nach Orientierung in einer orientierungslosen Welt, indem er sich verstärkt auf die Traditionen beruft, auch der Religion als möglicher Welterklärung Respekt erweist. Nötig sei der "Mut zur Revision einstiger Gewissheiten", eine "Gesamternüchterung", die zu einer neuen "weltanschaulichen Position" gerinnt, die er vage mit dem Begriff des Linkskonservatismus umschreibt.

    Politycki: "Wir haben eine Jugend mit großem Idealismus verbracht, der in meinem Fall nicht mehr nur ein politischer war. Es ist ein Reflektieren, wie man älter wird, während sich die Verhältnisse ändern, zum guten, aber auch im engeren Sinne, das was kulturelles Leben ausmacht, auch zum schlechten. Und wie man damit fertig wird. Und da ist dieses Konservativwerden im Sinne dessen, dass man sich zunehmend beruft auch auf eine Tradition, dass man versucht, sich darin zu sehen. zu verankern und für diese Tradition auch anzustehen in gewisser Weise, das ist etwas, was im Älterwerden dazukommt,. Und nicht im völligen Verzicht auf das, was ich mit linkskonservativ bei links verorten will, dass man also nicht stinkekonservativ wird, sondern dass man dieses Irrationalere, dieses utopische Moment, auch die Freude des Übers-Ziel-Hinausschießen und in den Quark hineindenken, dass man sich das bewahrt. Das ist das, was ich unter der Wende zum Konservativerwerden meine, das hat nichts mit der CDU versus SPD zu tun, sondern das ist weit drüber."

    Vielleicht kann man Polityckis Forderung nach einer linkskonservativen Wende noch am ehesten in die Tendenz der neuen Bürgerlichkeit einordnen, wie sie von Paul Nolte oder Wolfram Weimer propagiert wird: Die Betonung staatsbürgerlicher Verantwortlichkeit und zivilgesellschaftlichen Engagements, die im Zeitalter des postmodernen Hedonismus vergessen worden sind. Die von Politycki ins Auge gefasste der "Herrschaft der Besten", die sich gegenüber einer Mediendemokratie behaupten soll, in der allzu viele Stimmen zu Wort kommen, korrespondiert dabei mit der aktuellen Aufwertung des Elite-Begriffs. Politisch unkorrekt fordert Politycki: "Weniger Demokratie wagen". Die "Selbstverpflichtung zu teilhabender Neugier" soll von einem "Netzwerk freier Radikaler" geleistet werden, der "ästhetischen Variante einer außerparlamentarischen Opposition". Zuständig sei vor allem der Schriftsteller als "Fachmann fürs Allgemeine":

    Politycki: "Es ist für mich komplett obsolet, den Schriftsteller zu Fachmann für das Idiosynkratische zu machen, das ist ein Begriff vom Autor, der ihn als armen Tropf randständig und nach dem Motto "Haben sie Hunger?" konstruiert. Das ist leider durch unsere spezifisch deutsche Kultur jahrzehntelang gefördert worden. Aber der Schriftsteller, wie ich ihn verstehe aus der Antike heraus aber auch noch aus der Goethezeit heraus, versteht sich selbstverständlich als pars pro toto, aber nicht als den Hungerleider und kritischen Zeitgenossnen, der überall zu kurz kommt und deswegen die scharfsinnigsten Apercus zur Welt zu bieten hat, sondern er versteht sich aus dem Allgemeinmenschlichen heraus und zwar ohne dieses Allgemeinmenschliche in eine bestimmte Richtung zu bürsten. Jedenfalls muss er das, um die Bandbreite der Figuren in seinen Werken überhaupt erfinden zu können. Es gibt tatsächlich nicht wenige in der deutschen Literatur, die immer wieder dieselben Hauptfiguren haben, aus deren Winkel heraus immer ein wenig daneben stehend, das punktet auch sehr in den Feuilletons, solche Bücher, dann Betrachtungen und halb humoristisch oder halb tragische Handlungsverläufe anzubieten. Ich finde das furchtbar langweilig. Ein Schriftsteller, wie ich ihn verstehe, springt von einem Extrem ins andere und indem er das tut, versucht er das pralle Leben so weit als möglich zu vermessen und seinen Horizont auszuweiten, da gehört zum Beispiel das Reisen dazu."

    Diese Positionsbestimmung des Schriftstellers in der Gesellschaft führt Politycki zu der Forderung nach einem "relevanten Realismus", die der Autor zusammen mit einigen andern deutschen Autoren erhoben hat, und für die er viel Schelte vom Feuilleton bezog. Ein Kapitel seiner Essaysammlung fasst die Positionen und die Diskussionen darüber zusammen und variiert den Begriff vom relevanten" zum "artistischen" beziehungsweise "sentimentalischen" Realismus:
    Politycki: "Die Positionsbestimmung halte ich für wichtig, denn es gibt viel zu wenig Selbstreflexivität beim Schreiben, also diskutierte Selbstreflexivität. Wir sind nun einmal eine individualistische Generation und leben in einer individualistischen Zeit, aber ich finde es spannend, wenn man doch versucht, Gemeinsames zu entdecken. Das ist schwer und ist auch leicht zynisch oder sarkastisch immer sofort zu unterminieren, und am Ende kommt man mit leeren Händen raus aus solchen Gesprächen und der Begriff Relevanz, zu dem stehe ich nach wie vor. Wir leben in Zeitalter der Irrelevanz, das ist nicht zu leugnen: Es ist fast alles irrelevant, und vor allem das, was mit großen Pauken und Trompeten medial eingepaukt wird. Es ist schwer, hier eigentlich noch das Relevante zu entdecken, auch für den, der es möchte. Relevanz beginnt auch damit, dass man nicht immer nur die feuilletonistisch korrekten Themen abarbeitet. Sondern was sind eigentlich für einen Schriftsteller relevante Themen, was sind relevante Gestaltungsformen? Das sind alles zumindest mal Fragen, die wir aufgestellt haben. Vor allem die Mehrfachcodierung unterscheidet meinen Begriff von dem klassischen realistischen Begriff. Aber ich möchte mir nicht anmaßen, schon ein gängiges Konzept zu haben. Wir können uns nicht auf die Phänomene zurückziehen und einen gleichwertigen Pluralismus dessen, was schreibbar oder gestaltbar ist, akzeptierten, sondern Kunst, wenn man sie ernst nimmt, nämlich philosophisch betrachtet, fragt sich immer nach ihrem Wesen und ihren Gestaltungskriterien, alles andere ist ja pure Empirie. Die Sehnsucht in postmodernen Zeiten nach etwas, was nicht schon durch das nächste Event oder den nächsten postmodernen gut formulierten Satz wegwischt werden kann, einfach im altmodischen Sinne, eine Selbstvergewisserung dessen, was als Bildung und Kultur eigentlich auf verlorenem Posten ist. Und Bildung und Kultur ist nun einmal nicht nur eine Ansammlung von Wohlgelungenem, sondern das steht auch immer auf einem Gerüst dessen, was den theoretischen Hintergrund der Kunstwerke abgibt. Ich finde es verächtlich zu sagen, dass ein ästhetisches Urteil letztlich auf Geschmacksurteile hinausläuft, nein, ästhetische Urteile sind sehr viel mehr als Geschmacksurteile, es gibt Kriterien, vor allem ex negativo, man kann sehr genau an Kunstwerken sagen, wo Schwachstellen sind."

    Lassen wir dahin gestellt, ob der Begriff des "relevanten Realismus" geeignet ist, diese ästhetische Trennschärfe zu erzielen, man muss Polityckis politisch-kulturphilosphische Ansichten nicht unbedingt teilen, bedenkenswert und schlagend formuliert sind sie allemal, und sie fordern zu Klärung der eignen Position heraus. - Neben den politisch "bestimmten Artikeln" enthält die Essaysammlung auch Texte, die im engeren Sinn ästhetische Probleme umkreisen: Betrachtungen über die Alltagskultur des Fußball, die Erotik; Reflexionen über Hamburg und München und das Schreiben im digitalen Zeitalter. Eine Reihe von Reise-Essays, die von Polityckis Beobachtungen in Kuba, den USA oder Schanghai erzählen, beschließen das Buch und gehen glücklicherweise nicht in politischen Thesen auf. Der große Vorteil von Polityckis Essays ist, dass der Autor die Karten auf den Tisch legt, immer Klartext spricht und seine eigene Hamlet-Befindlichkeit entblößt. In Fußnoten und Kommentaren, die er als "Revisted"-Passagen seinen Essays nachgestellt hat, zeigt er überhaupt, wie sich sein Denken selbst korrigiert und verändert hat. Auch wenn man Polityckis Meinungen nicht teilt, muss man den Mut zur Ehrlichkeit achten, mit dem er seine Welt- und Selbstanalyse betreibt, die immer auch eine Selbstbeschreibung seiner Generation darstellt, die nach den 68ern kam:

    Politycki: "Die 78er haben dieses Erbe als Schüler ausgesaugt und sind damit groß geworden, und das ist ja auch ihre Funktion: dass sie in der Postmoderne eigentlich noch der letzte Brückenkopf eines von mir aus altmodischen Gesellschaftskonzepts sind, aber in dem eben Kultur ein sehr weit gefächerter Begriff ist und Verantwortung auch eine Rolle spielt. Ich würde mich nie so verhalten wie ein 68er: Ich will nicht demonstrieren und schreibe keine Pamphlete im Sinne von Aufrufen zu irgendetwas, aber ich reflektiere diese Welt sicherlich aus dem Humus dessen, was wir aus der Zeit ganz zwangsläufig mitgenommen haben."


    Info: !

    Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft, Hoffmann und Campe, 25 Euro