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Klischees und phantastische Geschichten

Reisebericht und Kuriositätenkabinett, das ist "Moskau – Japan und zurück" von Dmitri Prigow. Über Japan zu schreiben ist dabei für Prigow in erster Linie die Lizenz zu schreiben, was er will. Prigows Geschichten heben ab von Beschreibungen des Alltags, sie schwirren hin und her zwischen Japan und Moskau, zwischen Komik und Grauen.

Von Joachim Büthe |
    So komplex klingt es, wenn Dmitri Prigow die kleinste sprachliche Einheit, das Alphabet, anhand der Namen durchdekliniert und zelebriert. Wie mag es da aussehen, wenn er aus einem fernen Land berichtet, dessen Sprache er nicht versteht? "Moskau – Japan und zurück" ist das Ergebnis einer Reise und insofern ist es ein Reisebericht, allerdings aus einer Gegend, die den gedachten Hörern und Lesern nicht zugänglich ist.

    Viele von unseren Leuten waren heutzutage in diversen Europas. Die Jungs kannst du damit nicht mehr beeindrucken. Haben wir alles gesehen! Haben wir alles erlebt! Wem machst du heute noch mit der Beschreibung längst bekannter europäischer Geheimtipps eine Freude? Die kennt man doch. Aber nach Japan sind aus unserem Hinterhof bisher nur wenige gekommen. Wenige. Ich bin als erster hingekommen. Und ich enttäusch euch nicht. Jungs, hab ich euch etwa je enttäuscht?

    Über Japan zu schreiben ist für Prigow in erster Linie die Lizenz zu schreiben, was er will. Eine Anbindung an das, was man über Japan gehört hat, muss natürlich vorhanden sein und die Rückkopplung mit den Moskauer Verhältnissen ist unvermeidlich, sicher sind auch Beobachtungen vor Ort eingeflossen. Der Text, der so entstanden ist, generiert eine Parallelwelt, die an die Realitäten beider Orte andockt, aber nicht mit ihr zu verwechseln ist. Dazu ist Prigows Lust an Absurditäten und Skurrilitäten, an Klein- und Großkatastrophen zu offensichtlich. Zu den Reizen dieses Buchs gehört es, den Punkt zu finden, an dem die Sache kippt, an dem sich das Denkbare und Erwartbare in seine Parodie auflöst. So endet bei Prigow eine japanische Tempelprozession in einem Wagenrennen, das für die Beteiligten und Umstehenden die fürchterlichsten Folgen hat.

    Erhitzt vom ständigen Genuss hochprozentiger Getränke, erhöhen die Teilnehmer das Tempo, und in irgendeiner glatten Kurve, besonders an Regentagen, schafft es die himmelhohe Konstruktion nicht mehr, sie wird aus der Kurve getragen und kracht zu Boden. Auf die ringsherum stehenden und buchstäblich fast unter die Räder gekommenen Zuschauer - Frauen, Alte, Kinderchen – prasseln von der Spitze des Fahrzeugs zahllose riesige Balken, Gegenstände und Geräte aus Metall und die empfindungslosen wilden jungen Fahrer selbst herab, um Tod, Verstümmelung und herzzerreißendes Geschrei zu säen und fremdes und das eigene ungestüme Fleisch in kleine Stücke zu zerfetzen.

    Danach setzt Trauer ein, und im nächsten Jahr geht es von vorn los. Der Verdacht liegt nahe, dass an Stellen wie dieser die japanischen Klischees, der für Fremde exotische Umzug, kräftig mit russischen Klischees unterfüttert werden, damit die Jungs aus dem Hinterhaus etwas haben, dass sie wiedererkennen können. Der Irrsinn ist in der Welt, und wir können nicht umhin, mit ihm zu Leben. Das ist die Prigowsche Grundannahme, und wenn der Irrsinn nicht groß genug ist, dann muss man eben nachhelfen.

    Dennoch bleibt die Grundstruktur des Reiseberichts erhalten. Dieses Buch ist nicht nur ein Kuriositätenkabinett, aber das ist es natürlich auch. Prigows Geschichten heben ab von Beschreibungen des Alltags, von Begegnungen, die so oder ähnlich stattgefunden haben können. Sie schwirren hin und her zwischen Japan und Moskau, zwischen Komik und Grauen, und wenn Prigow einen wunderschönen, aber altersschwachen Schmetterling findet, dann ist es egal, ob er ihn nur erfunden hat.

    Und in dem Moment, als er mitfühlend versuchte, das Blatt unter das scheinbar fast schon entseelte Wesen zu schieben, flog der Schmetterling, die Reste der in ihm schlummernden Kräfte zusammenraffend, jäh auf und schwebte in niedrigem Tiefflug über die glitzernde Wasseroberfläche des Teichs dahin. Er hielt nur mit Mühe seine Flugbahn und eine minimale Flughöhe, in dem er hin und wieder in eine gewisse Höhe aufstieg, um dann im nächsten Moment fast das Wasser zu berühren. Und an einem dieser niedrigsten Punkte seiner Flugbahn streckten sich schlaftrunkene, bleiche, grätige, aufgesperrte Fischlippen durch die fast metallische Teichoberfläche und verschlangen das unbekannte Wunderwesen.

    So wie Prigow die Klischees über die beiden Länder, die er ihm Visier hat, nutzt, um von dort aus phantastische Geschichte zu erfinden, so nutzt er auch die Muster des Reiseberichts, um genau das nicht zu liefern, was sie vorgeben. Non-fiction lautet der Untertitel, und auch das ist Teil seines doppelbödigen Spiels. Prigows Assoziationen mäandern dahin, schwingen sich auf zu leichtfüßigen erzählerischen Miniaturen und stürzen wieder ab ins bloß Anekdotische. Prigow schreibt nicht durchgehend auf seinem Niveau. Wer aber den ein oder anderen Kalauer wegzustecken in der Lage ist, dem kann zumindest eines garantiert werden: Langweilen wird er sich in Prigows Japan ganz gewiss nicht.

    Dmitri Prigow: Moskau – Japan und zurück. non-fiction. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Folio Verlag Wien, 269 S., geb., € 22,50