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König an der Stelle des Königs

Literaturkritiker haben gemeinhin keinen guten Ruf: Können selbst nicht viel, urteilen aber über andere Die Autoren des Buches "Literaturkritik. Geschichte - Theorie - Praxis" sind selbst als Rezensenten tätig. Thomas Anz und Rainer Baasner räumen hier der Kritik an der Kritik viel Platz ein.

Von Kersten Knipp | 30.03.2005
    Können selbst nicht viel, urteilen aber über andere. Selbstherrlich und eitel sind sie, launenhaft, opportunistisch und bisweilen schlicht ahnungslos. Nein, Literaturkritiker haben keinen guten Ruf. König an Stelle des Königs sein wollen, hemmungslos richten, mäkeln und verwerfen - all dies macht keinen guten Eindruck. Die Übermacht des Sekundären, die Vorherrschaft der Quengler, Nörgler, Beckmesser über die Künstler und Kreativen ist Gegenstand beständiger, aus dem Betrieb kaum wegzudenkender Klage. Wirklich laut aber wurden die Beschwerden erst im 20. Jahrhundert - in den Worten eines Alfred Kerr etwa, der, selbst ein Großmeister seiner Zunft, sie scharfzüngig auf den Punkt brachte.

    "Warum rezensiert man gewisse Dinge? Darum: weil man glaubt, dass eine anständige Rezension bisweilen Aussicht hat, länger zu leben als ein Schmierenstück. Warum treibt man das Verfassen von Rezensionen? Um des Rezensenten willen. Nicht um des Publikums willen."
    Literaturkritiker haben gemeinhin keinen guten Ruf: Können selbst nicht viel, urteilen aber über andere Die Germanisten Thomas Anz und Rainer Baasner sind selbst als Rezensenten tätig haben. In ihrem Buch "Literaturkritik. Geschichte - Theorie - Praxis" räumen sie der Kritik an der Kritik viel Platz ein.

    Doch Schluss nun mit der Nestbeschmutzung. Die beiden Germanisten Thomas Anz und Rainer Baasner, in Marburg und in Rostock lehrend und bisweilen selbst als Rezensenten tätig, haben ein Buch mit dem Titel "Literaturkritik. Geschichte - Theorie - Praxis" herausgegeben, das dem Geschimpfe über das wertende Gewerbe breiten Raum einräumt - das aber auch zeigt, wie der Kritiker auch, und am liebsten möchte man natürlich sagen: in seinem tiefsten Herzen ist. Selbstlos, edel und gerecht nämlich, stets der guten Sache verpflichtet. Worum es dem Rezensenten eigentlich geht, das fasst niemand anmutiger in Worte als Christian Thomasius, der im ausgehenden 17. Jahrhundert die "Monats-Gespräche", eine der ersten deutschen Literaturzeitschriften, herausgab.

    "Nehmlich habe ich mir vorgenommen (…) künftig die Lehren von der wahren Tugend und von rechtschaffener Gelahrtheit / dem von der Pedanterey und Gleißnerey guten Theils verblendeten menschlichen Geschlechte vorzutragen."

    Der Mensch - verblendet, weil er ein ungehobelter Trampel ist, in Unkenntnis all dessen, was der Kunst und mit ihr dem Leben erst zu voller Schönheit verhilft. Anmut braucht Anleitung, das wussten Autoren der frühen poetischen Regelwerke wie Christian Fürchtegott Gellert nur allzu gut. Aber wie, so die bange Frage, wendet man sie an? Oder, noch beunruhigender: Nutzt es dem Künstler wirklich, sie zu kennen?

    " Haben wir Genie, so können uns die Regeln viel nützen, aber sie können uns doch die Anwendung nicht lehren. Diese kömmt auf unsere Einsicht, auf unsern Geschmack an. Die Regeln können selbst ein Genie noch immer fehl führen."

    Das jedenfalls dem Kritiker selbst ein wenig Bildung nicht schaden kann, dieser Ansicht sind Anz und Baasner sowie die übrigen Autoren des "Literaturkritik"-Bandes unbedingt. Was Bildung, Takt und künstlerische Sensibilität angeht, nehmen sie den Rezensenten streng in die Pflicht. Und auch, dass sie einer dienenden, orientierenden Aufgabe nachzugehen hätten, schärfen sie ihnen ein. Recht verstanden, sollte sich der Geist ihrer Arbeit nicht allzu sehr von jenem unterscheiden, wie ihn der Kritiker und Autor Joseph Görres zu Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieb. Literatur sei eine große Kunst. Und die Kritiker, ...

    "… die das wundersame Klingeln gehört, treten zusammen und besprechen, was sie vernommen."

    Doch allzu wundersam sollte das Geklingel denn doch nicht sein. Der "Literaturkritik"-Band dokumentiert auch, wie abhängig die Rezensenten vom Zeitgeist sind. Was sie einst beklatschten, dem halten sie bald darauf den nach unten gestreckten Daumen entgegen. Kritik kennt eben keine zeitlosen Werte, sie altert mit ihrem Umfeld und verjüngt sich mit ihm. Eben darum wollte Detlev von Liliencron vom romantischen Raunen früherer Jahre 1888 entschieden nichts mehr wissen.

    " Bis zur äußersten Widerwärtigkeit ist es bei uns angekommen: dieses übersüßliche Geschreibe, dies Geschreibe, als wenn es einzig und allein nur fünfzehnjährige Mädchen und Sekundaner auf der Erde gäbe. (…) Lieber, wenn's denn sein muss, durch Dreck und Jauche pantschen, als das gräuliche Zuckerwassertrinken."

    Kritik und Erkenntnis. Noch besser aber: Decouvrierung, Entlarvung, Attacke auf den Überbau. Ihre vielleicht heroischsten, jedenfalls aber bewegendsten Momente durchlebte die literarische Kritik, seit die Welt so richtig aus den Fugen geriet. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, Verstädterung. Was eigentlich kann die Literatur in solchen Zeiten leisten? Nicht garantiertermaßen viel, fand Walter Benjamin, der der großen, erhaben zeitlosen Kunst gründlich misstraute und sie in unmittelbare Nachbarschaft großer Verblendungszusammenhänge rückte. Kunst, das kann Aufklärung ebenso gut wie deren krasses Gegenteil sein. Immer aber ist sie parteiisch und niemals unschuldig. Und dagegen, schrieb er 1924, gelte es anzugehen.

    "Funktion der Kritik, heute vor allem: Die Maske der ´reinen Kunst` zu lüften und zu zeigen, dass es keinen neutralen Boden der Kunst gibt. Materialistische Kritik als Instrument dazu."

    Literatur- als Ideologiekritik. Der schrille, hohe Ton der Aufklärung hat ganzen Generationen von Rezensenten den Rhythmus vorgegeben. Der Literatur den ideologischen Schleier zu entreißen, darin übten sich vor allem in den 60er, 70er Jahren ganze Heerscharen aufgescheuchter Rezensenten; allen voran intellektuelle Fackelträger wie Walter Boehlich, der in dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Kursbuch" lauthals zur Jagd auf die bourgeoise Literatur blies.

    "Die Kritik ist tot. Welche? Die bürgerliche, die herrschende. (…) Die bürgerliche Kritik wirkt nicht mehr über den ersten Tag hinaus. Sie bewirkt ihr eigenes Vergessen. (…) Sie glaubt immer noch, dass der Geist das Höchste sei, (…), dass Geist Macht sei; sie hat ihre eigene Entmachtung dankbar hingenommen. (…) Können wir keine Kritik haben, die den fadenscheinig gewordenen Kunstwerk-Begriff über Bord wirft und endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als as Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt?"

    Immerhin spricht aus solch engagiertem Geraune das schönste Kompliment, das man der Literatur überhaupt machen kann: dass sie etwas bewegt. Dass sie uns bewegt. Dass sie der Welt zum Besseren verhilft. Eine eitle Hoffnung? Vielleicht. Der Tod der Literatur ist oft prophezeit worden, ebenso der der Literaturkritik. Das Gegenteil ist wahr. Die Zahl der Bücher wächst und mit ihr die der Besprechungen. Hobbykritiker äußern sich im Internet, jedes Klatsch-Magazin hält für den Literaturkritiker einen Katzentisch bereit. Der Kritik muss das nicht unbedingt gut tun. Immerhin laufen das Geschäfte. Wie man in diese hineinkommt, verrät Thomas Arnz in seinem kenntnisreichen Beitrag über "Literaturkritik als Beruf". Für Einsteiger und Fortgeschrittene unbedingt empfehlenswert. Und auch und vor allem für freie Autoren. Wenn fest angestellte Redakteure in deren Texten stark eingriffen, so Anz, sollten freelancer dies unbedingt als Warnsignal betrachten. Denn eine stark überarbeitete Besprechung könnte leicht ihre letzte gewesen sein. Dies im Hinterkopf, hat der aufgeschreckte Rezensent die Kritik des für ihn zuständigen Redakteurs bereits gewissenhaft verdrängt.

    Thomas Anz/Rainer Baasner (Hrsg.): "Literaturkritik. Geschichte - Theorie - Praxis"
    C.H. Beck Verlag