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Kolonialvergangenheit und Weltraumbahnhof

In Brasiliens nordöstlichem Küsten-Teilstaat Maranhão findet man unendlich scheinende Palmenhaine, Lehmhütten wie in Afrika, doch auch portugiesische Architektur wie in Lissabon und einen hochmodernen Weltraumbahnhof, die Raketenbasis Alcântara. Ausgangspunkt ist die Provinzhauptstadt São Luis.

Von Klaus Hart | 27.02.2011
    Nach einem Strandnachmittag stromert man abends in angenehm warmer Tropenluft durchs Gassengewirr der Altstadt und stößt plötzlich auf Spontanfeste, auf Sambaschulen, gar gruppenweise in Euphorie bis Ekstase verfallende Sektenmitglieder. Doch vor allem wird hier das kulturelle Erbe der Sklaven gepflegt.

    Das ist Tambor de Crioula - ein Tanz mit einem Trommelrhythmus aus Ghana und Benin, in Brasilien nur noch hier in Maranhão lebendig und ein Hit im Karneval. Bevor es losgeht, werden die drei unterschiedlich großen Holztrommeln erst einmal am offenen Holzfeuer mitten auf dem Kolonialpflaster erhitzt und damit in beste Klangform gebracht. Die Trommler singen dann gleichzeitig traditionelle Verse oder improvisieren Stegreiftexte, während die Tänzerinnen in weiten weißen Röcken und bunten Blusen, in den Refrain einstimmen - oder mit den Trommlern einen Wechselgesang beginnen.

    Die Frauen stoßen dabei immer wieder paarweise mit den Bauchnabeln zusammen, was allen einen Riesenspaß macht. Man hat den Eindruck, die Senhoras so ab 60, 70 sind beim Tambor de Crioula weit versierter, virtuoser als die jüngeren Maranhenserinnen.

    Gleich um die Ecke, in der berühmten Rua de Giz, verkaufen Indianer ihr Kunsthandwerk, führt Joelma Santos ein Zentrum für regionale Indiokultur und erklärt einem Besonderheiten:

    "Von den mehr als sechs Millionen Bewohnern des Teilstaats sind über 20000 Indianer. Bei verschiedenen Stämmen gibt es Polygamie, wobei sich der Mann heute gewöhnlich eine oder zwei Indianerinnen zur Frau nimmt - sowie eine nicht-indianische, meist aus der Stadt. In e i n e r Indioregion gibt es viele Homosexuelle. Dort kleiden sich Männer wie die Frauen, helfen die eigenen Mütter den Männern dabei, sich zu schminken und zu schmücken. Dort ist das überhaupt kein Problem, gibt es keine Vorurteile."

    Im Kulturzentrum hört man natürlich auch Musik der Maranhao-Indianer. Kaum zu glauben: Um das Jahr 1612 schwören mehrere tausend Tupinambá-Indianer König Luis XIII. von Frankreich die Treue, ziehen für ihn in die Schlacht gegen anrückende portugiesische Kolonialsoldaten. Denn damals wird São Luis als einzige brasilianische Provinzhauptstadt von den Franzosen gegründet, die hier eine weitere Überseekolonie installieren wollen.

    Doch schon nach drei Jahren unterliegen Franzosen und Indios, wird São Luis daraufhin ein malerisches Städtchen mit dem bis heute bedeutendsten Ensemble bürgerlicher portugiesischer Architektur in ganz Lateinamerika. Man erkennt es leicht an den Azulejos, jenen blau bemalten portugiesischen Kacheln an den über 3000 Häusern der Altstadt. An einigen Fassaden sind es sogar französische in Rosatönen und holländische in gelb. São Luis, kaum zu glauben, war sogar schon einmal die nationale Kulturmetropole, wurde wegen seiner Dichter, Denker und Theater "brasilianisches Athen" genannt.

    Seit 1997 ist São Luis UNESCO-Kulturerbe der Menschheit, doch viele interessante Kolonialbauten haben noch eine aufwendige Restaurierung nötig, dafür wurden sogar chinesische Architekten geholt. Aus manchen Balkons und Fenstern malerischer Ruinen wachsen allen Ernstes gewaltige Gummibäume heraus, wie sie mancher wohl gerne zuhause bei sich im Wintergarten hätte.

    Doch auch kulinarisch wird Maranhão zur Entdeckungsreise. Am besten, man beginnt im großen, mit Palmstroh überdachten Restaurant "Cabana do Sol" am Strand von São Marcos - das empfehlen einem fast alle. Eine Menge Kellner flitzen herum, wirklich eine blendende Bedienung. Viele Gäste, größtenteils Einheimische, fangen mit Fruchtsäften exotischer Namen an.

    "Cupuacu und Bacuri mit dem besonders kräftigen, etwas eigenartigen Geschmack sollte man unbedingt probieren."

    Meint die südbrasilianische Touristin Heloisa Falcao.

    "Solche Säfte und solche Früchte werden in Europa nirgendwo angeboten. Ganz typisch für diese Region sind auch Cajá und Açaí."

    Dass viele natürlich auch Brasiliens Nationalgetränk Caipirinha, aus Zuckerrohrschnaps und Limonensaft, bestellen, versteht sich von selbst.

    Darf man fragen, warum hier beinahe alle in der "Cabana do Sol" solchen merkwürdig grünen Reis essen?

    "Das ist Arroz-de-Cuxá, die absolute Spezialität von Maranhão, Stolz der ganzen Region. In diesem Reis sind indianische Kräuter drin, außerdem viel getrocknete Krabben, die ja hier ohnehin zu den meisten Gerichten gehören. Die Küche von Maranhão ist ganz anders als im großen Rest Brasiliens - ob bei den Meeresfrüchten oder beim Rindfleisch, das man hier sogar an der Sonne trocknet, nach jahrhundertealter Tradition. Das rohe, in Scheiben geschnittene Fleisch wird mit der Hand gut durchgesalzen und dann auf Leinen zum Trocknen in die Sonne gehängt - die ja hier ganz in Äquatornähe nun wirklich nicht fehlt. Carne do Sol, Sonnenfleisch, wie wir es nennen, ist noch so eine Spezialität, die man sich nicht entgehen lassen darf. Die Europäer werden das sicher seltsam finden - aber Fleisch auf der Leine sieht man viel in Maranhão."

    Und tatsächlich - mit geschärftem Blick fallen einem rasch schon an der Peripherie von São Luis jene Wäscheleinen mit dem Sonnenfleisch auf, das man als Uninformierter wohl von Weitem für rote oder eher graue Lappen gehalten hätte. Manchmal ziehen sich die Leinen, von Wäschestangen gestützt, vor den Häusern auf dem Fußweg gleich über mehr als hundert Meter hin. Vor einem hübschen Restaurant mit Blick auf die Bucht von São Luis baumeln die Leinen voller rohem Fleisch in angenehmer Meeresbrise gleich neben den Tischen der Gäste - und einer uralten kleinen Barockkirche der Kolonialzeit. Und getrocknete Krabben werden auf den Märkten geradezu überreichlich angeboten - es gibt sogar alljährlich Krabbenfeste.

    São Luis hat auch den Beinamen Jamaica Brasileira, gilt als Brasiliens Reggae-Capitale. Die überwiegend jungen Reggae-Fans, die Regueiros, halten zwar engen Kontakt zu ihren Idolen der Karibik, tanzen deren Hits an den Stränden und in der Altstadt aber ganz anders - paarweise, eng zusammen, Haut an Haut. Reggae schallt aus großen Autolautsprechern sogar auf der Anhöhe des neoklassizistischen Gouverneurspalasts, von dem man über Treppchen und Gässchen in die Unterstadt gelangt.

    Der Volksmund mag die uralten Namen - jener Beco da Baronesa heißt weniger nobel auch Beco da Bosta, Mistgasse - Erinnerung an die Tatsache, dass hier einst Sklaven in Körben die Exkremente der Herrschaften entlangschleppten und dann ins Meer, in die Bucht von São Luis kippten. Wo die Schwarzen einst verkauft wurden, kann man sich in einem bedrückenden Gebäude, der Cafua de Merces, ansehen - einziger erhaltener Sklavenmarkt Brasiliens. Anstelle von Fenstern hat er schmale Schlitze - dahinter kauerte die Menschenware aus Afrika.

    Sehenswert auch die alten, von Kolonialhäusern umgebenen Wasserstellen für Mensch und Tier - die Quellen werden heute noch genutzt und sind romantische Verweilplätze der Maranhenser. Die Ärmeren darunter nutzen die Wasserstellen gar zur ausgiebigen Ganzkörperpflege.

    Der junge Offizier João Ferreira aus São Luis prescht jeden Tag mit einer Luftwaffen-Fähre auf die andere Seite der Bucht zur Raketenbasis und will dort Karriere machen. Brasilien kooperiert in Alcântara mit China, der Ukraine und auch den USA, will künftig immer mehr kommerzielle Satelliten auf eine Erdumlaufbahn schießen.

    "Alcântara ist der beste Ort der Welt für Raketenstarts, die wegen des günstigen Klimas ganzjährig möglich sind. Wegen der Äquatornähe spart man viel Treibstoff ein - und die zwei Buchten neben dem Testgelände sind gut für die Sicherheit. Geht beim Start etwas schief, wie 1999, wird die Rakete gesprengt und stürzt in den Ozean. Tragisch war das Unglück von 2003 - da brannte eine 19 Meter hohe Rakete auf der Startrampe ab, starben 21 Fachleute in den Flammen."

    Die Gemeinde Alcântara mit ihren nur etwa 3000 Bewohnern, nahe der Raketenbasis, erreicht man von São Luis aus mit einem Fährboot, was durchaus zu einer heftigen Schaukelpartie auf Atlantikwellen werden kann. Auch wenn die Bootsleute versichern, dass noch nie eine Fähre kenterte, legen nicht wenige Touristen besser schon mal die Schwimmweste an. Alles geht gut - und am Bootssteg in Alcântara empfängt einen doch tatsächlich ein kleiner Junge mit einem ausgewachsenen Glücksschwein am Halsband, stehen Männer mit Krabbenfangnetzen im Hafenschlamm. Man steigt den steilen Hauptweg hinauf und fühlt sich in die Kolonialzeit zurückversetzt, trifft auf barocke Kirchen und kleine Paläste, teils in Ruinen. Damals ist der Ort wirtschaftlich weit wichtiger als São Luis, peinigt die portugiesische Landaristokratie ihre Sklaven besonders sadistisch. Vor der Präfektur steht sogar Brasiliens besterhaltene, etwa fünf Meter hohe Pelourinho-Steinsäule:

    "Hier hat man früher ungezählte Afrikaner angekettet und gefoltert",
    erklärt ein Einheimischer.
    "Dieser Pelourinho war das Symbol der portugiesischen Autorität und steht heute wie ganz Alcantara unter Denkmalsschutz."

    Von Kirchentreppen aus lassen sich hier besonders gut afrobrasilianische Milieustudien anstellen. Eine nationale Touristenattraktion ist der nie überlaufene, ruhige Ort auch wegen seiner uralten Festtraditionen. Museumsdirektor Antonio Tavares, im Reggae-T-Shirt einer lokalen Frauenband, weiß Genaueres:

    "Wir sind hier fast alle Sklavennachfahren und feiern im Mai ein Fest namens Divino Espirito Santo, das von den Azoren stammt. Da bilden wir mit Trachten und Tänzen ganz aufwendig die frühe Kolonialzeit nach, wählen sogar jedes Mal Kaiser und Kaiserin, bauen einen Thron, ziehen durch den ganzen Ort, lassen uns das etwas kosten."

    Manches Gotteshaus fiel zusammen, weiden in den Ruinen jetzt Kühe und Ziegen - aber die barocke Kirche der Sklaven, in der die Figuren aller schwarzen Heiligen aufgereiht sind, hat überlebt. Und siehe da - auch die drei Trommeln des Tambor de Crioula stehen dort - den wir schon aus São Luis kennen.

    "Die Trommeln schlage ich seit meiner Kindheit - in dieser Kirche steckt meine Seele."

    Sagt der Schwarze João Bento, inzwischen über siebzig, und gibt eine Kostprobe.

    "Im August ist unser Fest des Heiligen Benedito, des Beschützers der Schwarzen, dann wird hier eine ganze Woche lang vor der Kirche getrommelt, getanzt und gesungen - immer gleich nach dem Gottesdienst, geht es hier sehr afrikanisch zu. Die Kirche, man sieht es, ist ganz schlicht, hat nur Stampfboden und entgegen portugiesischer Tradition nur einen Turm - mehr Mittel für den Bau konnten die Sklaven nicht zusammenkratzen. Aber die größten Steine mussten aus Portugal herangeschafft werden. Das war damals überhaupt bei vielen brasilianischen Kirchenbauten so üblich. Die Schiffe kamen ja leer herüber - und fuhren voll mit Gold nach Portugal zurück. Gleich neben unserer Kirche haben die Sklaven damals ihre Toten beerdigt."

    Ganze zwei Zivilisationsflüchtlinge hat es just ins archaische Alcântara verschlagen, die sich freuen, auf Besucher aus der alten Welt zu treffen. Da ist Georg Koudelka, der sudetendeutsche Kraftwerksingenieur, dem in seinem Haus am Pelourinho-Platz selbst tagsüber die Fledermäuse um den Kopf herumschwirren:

    "Ich will in keine Großstadt mehr. Ich war ja in der ganzen Welt praktisch durch meinen Beruf, war Direktor von zwei Kraftwerken. Hier habe ich eine Kirche gebaut, ein Haus der Begegnung, Wasserleitungen, ich renoviere Häuser. Das ist mein Geschenk für die Region. Geht alles von meiner Pension ab. Ich rede mit jedem, mit meinem schlechten Portugiesisch, ich bin bekannt. Jeder sagt, Du solltest hier Bürgermeister werden."

    Immer wieder unterbricht regionaltypische Werbung unser Gespräch - Motorradfahrer haben auf dem Gepäckträger einen Lautsprecher geschnallt, der im Auf und Ab der Alcântara-Gassen Endlos-Propaganda abdudelt.

    Gleich gegenüber von Koudelka hat sich der bekannte Schweizer Profifotograf Barnabas Bosshart niedergelassen. In den Sechzigern, Siebzigern ist er in der Londoner Künstler-und Modeszene der verrückte, hochnervöse Barney, der für die "Times" sogar Jimmy Hendrix, Anais Nin und viele andere Prominente ablichtet. Dann schmeißt er hin, geht nach Lateinamerika, entdeckt zufällig Alcântara. Dort durchstöbert Bosshart in der Aufbauphase des Raketengeländes auch den letzten Winkel, wird deshalb sogar in den Regionalmedien der Spionage für Großmächte verdächtigt. Man beruhigt sich erst, als Bosshart ein Schwarz-Weiß-Porträtbuch über die Bewohner herausbringt, die Fotos sogar in Peking und europäischen Städten wie München und Lissabon ausstellt, Alcântara - und damit Maranhão - auch zu internationaler Beachtung verhilft. Das Werk ist inzwischen ein Klassiker der Brasilienfotografie. Bosshart idealisiert nichts, führt einen weg von der tropisch-bunten, exotischen Erscheinungsebene:

    "Diese irre Kolonialkulisse hat mich hypnotisiert - sieben Jahre lang habe ich die Leute hier studiert und fotografiert. Ein kleiner Junge sagt, knips mich nicht, ich bin doch so schwarz - das hat mich schockiert. Hier war die portugiesische Landaristokratie. Die hat die Leute aus Guinea-Bissau 350 Jahre geknüttelt und aufgehängt, das war natürlich ein Ort der Tortur, das war wahnsinnig brutal. Und dies sitzt noch in den Leuten, ich merk das als Ausländer. Es ist eine gewisse Gedrücktheit, Frustration, eine Resignation. Das merkst du aber erst richtig tief, wenn du mal hier lebst. Du siehst es auch in den Augen."

    In der Hymne von Maranhão erinnert indessen kein einziges Wort an die dunkle Kolonialvergangenheit, werden ruhmreiche Zeiten besungen, ist Maranhão die Wiege der Helden.

    Nach Maranhão hat es indessen auch eine frühere DDR-Bürgerrechtlerin verschlagen. Barbara Ludewig aus Dresden leitet in dem Armenviertel "Vila Embratel" bei São Luis als Missionarin des italienischen Comboni-Ordens seit Jahren mehrere Entwicklungsprojekte.

    "Was mich bis heute begeistert, ist die Solidarität, die Kraft der Leute - in solcher teils ausweglos erscheinenden Lage durchzuhalten, zu widerstehen. Mich erstaunt immer wieder, mit welcher Freude die Leute bei uns mitmachen."