Freitag, 26. April 2024

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Krieg und Krieg

Der ungarische Autor László Krasznahorkai, Jahrgang 1954, versteht es meisterlich, sein Lesepublikum zu irritieren und zu schockieren. Seine Romane sind immer Geschichten aus einem Gruselkabinett, einst hinter dem eisernen Vorhang gelegen, aber auch danach hellt sich bei ihm die Szenerie nicht auf. Der Mensch ist in eine Düsternis und Aussichtslosigkeit geworfen, aus der es kein Entrinnen gibt. In seinem ersten Roman ´Satanstango´´ schildert er die Verkommenheit eines kleinen Dorfes, in dem die Bewohner nur noch eine trübe Hoffnung haben, ein Messias möge kommen und sie aus ihrem Elend retten. Nicht hoffnungsfroher ist sein zweiter Roman ´Melancholie des Widerstands´. Wiederum bedrängen die Bewohner einer gesichtslosen Provinzstadt Gefühle der Angst und Verfolgung, sie fühlen ein großes Unheil nahen. Beide Romane waren die apokalyptische Vorwegnahme der Zerrissenheit und Abgründe, die die gestürzten Diktaturen Ost/Mitteleuropas hinterlassen haben.

Lerke von Saalfeld | 17.10.1999
    Nun ist der jüngste Roman des Autors rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunkt "Ungarische Literatur" ins Deutsche übersetzt worden: ´Krieg und Krieg´ lautet der Titel und als Motto wählte Krasznahorkai den vieldeutigen Satz: ´Der Himmel ist traurig´. Traurig ist die Geschichte eigentlich nicht zu nennen, die der ungarische Autor erzählt; sie ist bizarr, komisch und natürlich – wie könnte es bei diesem Autor anders sein – teuflisch verworren und verwirrend. So verwirrend, daß der Leser seinerseits verführt wird, zum Schluß alles ganz logisch zu finden, obwohl nichts an dieser Geschichte plausibel ist. Denn ein Irrer stolpert durch die Welt, gibt seiner Umgebung und sich selbst Rätsel auf.

    Der Roman beginnt mit einer merkwürdigen Szene: die Hauptfigur Korim, von der der Leser zunächst nichts weiß, wird auf einer Eisenbahnüberführung von sieben Kindern umzingelt und bedroht. Sie wollen Geld, aber der merkwürdige Mann hat kein Geld bei sich. Der Mann redet nur auf die Kinder ein, erzählt ihnen konfuse Geschichten, mit denen sie nichts anfangen können. Er redet sich die Angst vom Leib, er verspürt aber auch das Bedürfnis, sich erklären zu müssen, warum er plötzlich so an den Bahngeleisen herumlungere. Den Kindern erzählt er über seine Vorgeschichte, als er noch Lokalhistoriker in einem Archiv in der Provinz war:

    "Er glaube leider, er werde den Kopf verlieren, denn als seine Umgebung verstand, daß er es nicht bildhaft, nicht im übertragenen Sinn meinte, sondern so, wie er es sagte, also Kopf ab, bedauerlicherweise, höchstwahrscheinlich, da floh sie vor ihm wie aus einem brennenden Haus, stürzten regelrecht davon, und sehr schnell war alles um ihn herum weg, er stand da wie ein brennendes Haus, begonnen hätten sie, sagt er, damit, daß sie sich von ihm zurückzogen, daß sie ihn im Archiv nicht mehr ansprachen, daß sie seinen Gruß nicht erwiderten und nicht am selben Tisch mit ihm aßen, bis sie ihm zuletzt, wenn sie ihn auf der Straße erblickten, auswichen, versteht ihr? fragte Korim die sieben Kinder, sie seien ihm ausgewichen, das habe ihn am meisten geschmerzt, ergänzte er, mehr als das, was mit seinen Halswirbeln passiert war, gerade in diesem Zustand hätte er größtes Mitgefühl benötigt, sagte er, und ihm war anzusehen, daß er am liebsten bis in die kleinst-möglichen Details hinein weitergeredet hätte, wie andererseits den Kindern anzumerken war, zum einen Ohr rein, zum anderen raus, denn die sieben Kinder hätten zu alldem sowieso nichts mehr gesagt, es interessierte sie nicht mehr, besonders von dem Punkt an, wo ´der Typ vom Verlust seines Kopfes anfing´ wie sie später anderen berichteten, "Murks", sagten sie und wechselten Blicke."

    Die verwahrloste Kinderbande ist gleichgültig gegenüber der Lebensgeschichte des ulkigen Mannes, sie will sein Geld, sonst nichts. Diese Anfangsepisode ist charakteristisch für den gesamten Roman: Immer trifft der ehemalige Archivar Korim auf Menschen, denen er seine Geschichte anvertrauen möchte, die er wider deren Willen vollquatscht, aber keiner schenkt ihm wirklich Aufmerksamkeit. Alle halten ihn – bestenfalls - für eine verschrobene Figur, die nicht ganz richtig im Kopf tickt. In endlosen Sätzen – manchmal über mehrere Seiten hinweg – erzählt Korim seine Geschichte und seine Erlebnisse; mal aus eigener Anschauung, mal aus der Perspektive der Leute, denen er begegnet und die seine Geschichte weitererzählen; wem, das bleibt oft unklar. Durch die überlangen Satzsequenzen erzeugt der Autor eine atemlose Spannung, auch dem Leser keine Ruhe zu gönnen. Er wird hineingezogen in ein Geschehen, dem er sich nicht mehr entziehen kann. Korim entdeckt eines Tages, daß das Leben nur Enttäuschungen bringe; er ist verbittert ´über den Zustand der Welt´. Also beschließt er, sein altes Leben aufzugeben und begibt sich auf eine ´große Reise´. Zuvor hat er all sein Hab und Gut verkauft, das Geld ist zur Sicherheit in den Mantel eingenäht. Aus der Provinz findet er den Weg nach Budapest, und von dort fliegt er nach New York, der Welt-Metropole, wo er sich das Leben nehmen will. Der verschrobene Mann zieht überall die Aufmerksamkeit auf sich, aber er merkt nicht, daß man ihn auffällig und bedrohlich findet, gerade weil er keinerlei Gewalttätigkeit an sich hat, sondern immer nur reden will, seine Geschichte erzählen möchte. Durch Verkettung verschiedener Umstände findet Korim in New York Unterschlupf bei einem Dolmetscher aus dem Ungarischen. Hier richtet er sich nun bescheiden ein, denn bevor er aus dem Leben scheidet, muß er noch eine wichtige Aufgabe vollbringen. Im Archiv der ungarischen Provinzstadt hatte Korim in einer Akte ein Manuskript-Konvolut gefunden, das offensichtlich nicht in die Akte gehörte. Es ist ein Roman, den Korim zu lesen beginnt, der ihn immer mehr fesselt und nicht mehr losläßt. Dieses Manuskript ist sein einziges Reisegepäck. Er will es der Nachwelt überliefern, denn dann hätten sein Leben und sein Tod einen Sinn. Korim besorgt sich einen Computer und schreibt den Roman ins Internet, um, wie er es ausdrückt, ´sich in die Ewigkeit hineinzuschreiben´.

    Der Roman im Roman nimmt einen eigenwilligen Verlauf. Vier Schiffbrüchige stranden auf Kreta und beginnen von dort eine merkwürdige Reise durch die Zeiten und Länder Europas. Überall werden sie vertrieben, weil Unheil oder Krieg droht. Ihr Weg führt sie von Kreta nach Köln, nach Venedig und Gibraltar und schließlich ins römische Italien. Sie überspringen die Jahrhunderte, nur eines bleibt gleich: überall auf der Welt droht Gefahr, der Alptraum des Krieges lastet auf Europa, wo immer sie sich befinden. Korim lebt nur noch in dieser Geschichte, New York interessiert ihn nicht. Er will herausfinden, worin das Geheimnis dieses anonymen Romans besteht, dem er den Titel "war and war -Krieg und Krieg" in seiner Datei im Internet gibt:

    "Korims Hände zitterten, Korims Augen glühten bereits, als hätte ihn unvermittelt ein Fieber befallen, den Weg hinaus, den Ausweg habe dieser Autor für sie gesucht, jedoch nicht gefunden, etwas völlig Ätherisch-Irreales, er schicke die vier in das völlig Reale, in die Menschheitsgeschichte, also in die Ewigkeit des Krieges, und versucht sie dort an dem einen oder anderen Punkt anzusiedeln, der Frieden verhieß, aber nie gelang es, dabei beschwört er dieses Reale immer höllisch-kraftvoller, immer teuflisch-zuverlässiger, immer dämonisch-anschaulicher, und er schreibt seine eigenen Geschöpfe hinein, doch alles vergebens, und alles immer vergeblicher, denn für sie führt der Weg nur aus dem Krieg in den Krieg, nicht aus dem Krieg in den Frieden, weil es keinen Weg hinaus gibt."

    Der Roman im Roman ist wie eine Parabel angelegt. Analog zur Sinnlosigkeit von Korims letzter Lebenszeit, die nur gerechtfertigt ist durch das Abschreiben des Textes, stolpern die vier Weltenwanderer in der Geschichte des Abendlandes von einem Abenteuer ins nächste, durchmessen die Zeit und bleiben doch ratlos. Nur ein Verrückter, so glaubt Korim zwischendurch, könne diesen Roman geschrieben haben. Aber was ist schon verrückt, denn auch Korims eigenes Leben entzieht sich aller Logik, oder besser gesagt, besitzt eine sonderbare eigene Logik, die seine Umwelt nicht begreift und die nur Kopfschütteln auslöst. Der Leser erfährt den Inhalt des Romans, weil Korim jeden Mittag der Geliebten des Dolmetschers, einer stummen Puertoricanerin, beim Essenkochen jeweils den Fortgang des Inhalts erzählt. Korim redet ungarisch, die Frau versteht kein Wort. Verständnislosigkeit scheint die beste Art der Verständigung zu sein. Sprache ist nur etwas Vordergründiges. Der fortlaufende Roman und der Roman im Roman stecken voller solcher symbolischer Anspielungen – nicht aufdringlich, eher en passant. Ironie und Melancholie, Surreales und Reales verquicken sich wie selbstverständlich. Die Schrulligkeiten Korims, mögen sie noch so skurril sein, überzeugen den Leser immer mehr, er wird verführt, die Welt und die Menschen mit seinen Augen zu sehen.

    Mit ungeheurer Suggestivkraft entwirft Krasznahorkai Phantasmagorien von beklemmender Plastizität. Niemals bleibt er im Sinnieren über den elenden Zustand der Welt stecken, ständig passiert etwas Außergewöhnliches, das so komisch ist, daß man als Leser sich immer wieder verwundert die Augen reibt. Nachdem Korim sein Werk vollbracht hat, der Roman ist in die Ewigkeit des Internet hineingeschrieben, verläßt er sein elendes Quartier, will sich eine Pistole kaufen und sich erschießen. Aber Unverhofftes kommt dazwischen. Korim trifft in New York auf einen Ungarn, einen Trottel wie er, der in einem Karren Schaufensterpuppen herumfährt. Auch seine Wohnung ist mit diesen leblosen Geschöpfen dekoriert. In ihm entdeckt er einen Gleichgesinnten, und als sich eine neue Ungeheuerlichkeit auftut, rät der Landsmann ihm, sofort aus New York zu fliehen. Zuvor hat Korim jedoch noch ein Schlüsselerlebnis, in der Wohnung des anderen Ungarn entdeckt er ein Foto. Es ist die Abbildung eines archaischen Bauwerks, eines Iglus von Mario Merz. Korim ist wie elektrisiert. Er erkundigt sich, wo dieser Iglu im Original zu sehen ist, nämlich im schweizerischen Schaffhausen, und Korim kennt sofort sein neues Ziel: sein Fluchtpunkt ist Schaffhausen.

    Eine neue Odyssee beginnt. Denn so wenig Korim das Englische beherrscht, so wenig kann er sich im Deutschen verständlich machen, als er schließlich in Zürich landet, um nach Schaffhausen zu gelangen in die Hallen für Neue Kunst, wo der prähistorische Iglu des Avantgardekünstlers zu sehen ist. Kunst und Leben, darin besteht das Raffinement Krasznahorkais, sind immer eng aufeinander bezogen, er verwischt bewußt die Grenzen.

    War früher in Krasznahorkais Romanen die ungarische Provinz der Nabel der Welt, so versucht er nun plötzlich eine Schweizerin im Zug nach Schaffhausen zu überzeugen, wiederum auf Ungarisch, mit ein paar amerikanischen Brocken vermischt:

    "Er erklärte, die Ungarn gebe es nicht, hungarian no exist, sie seien ausgestorben, they died out, angefangen habe es vor ungefähr hundert oder hundertfünzig Jahren, auf unglaubliche Weise, nämlich ganz unauffällig, hungarian? no exist?, fragte sie und schüttelte ungläubig den Kopf, yes, they died out, bekräftigt Korim entschieden, vom vergangenen Jahrhundert an, da habe es dort eine gewaltige Vermischung gegeben, in der zuletzt kein einziger Ungar mehr übrig war, nur ein Gemisch, dazu einige Donauschwaben, Zigeuner, Slowaken und Serben und so weiter und hauptsächlich deren Gemisch, aber die Ungarn seien derweil verschwunden, beteuerte Korim, anstelle der Ungarn gebe es noch das Ungarland, Hungary yes, hungarian not, und es sei auch keine einzige aufrichtige und intakte Erinnerung mehr vorhanden, was für ein eigenes, großartiges, stolzes, unbezähmbares Volk sie waren, ...so daß sie sich selbst verloren, degenerierten, ausstarben und sich vermischten und nichts hinterließen als ihre Sprache, ihre Dichtung."

    Ein neues Verwirrspiel, der Ungar auf Reisen, der immer Ungar bleibt, keine fremde Sprache beherrscht, ihn gibt es nicht, er ist eine Fatamorgana und spaziert doch ganz real durch die Weltgeschichte und den Roman. Das Ende, so könnte man vermuten, löst sich schließlich im Nichts auf, was will der versponnene Mensch gerade in Schaffhausen am Rheinfall, wohin ihn die fixe Idee getrieben hat, den Iglu von Mario Merz vor Ort zu besichtigen. Die Merkwürdigkeit dieses Romans ist, Krasznahorkai versteht es, auch diesen letzten Akt als absolut zwingend darzustellen, so als ob es nicht anders sein könnte, denn das Leben selbst ist so verrückt und voller Überraschungen. Ein Satyrspiel, in dem die Menschen mitmachen, weil sie etwas Rätselhaftes antreibt, das sie selbst nicht durchschauen. Korim ist kein Grübler, er ist ein Besessener. Die vier Zeit- und Weltenwandler des Romans im Roman hätte er am liebsten im Zürichsee versenkt, um sich von ihnen zu befreien, denn sie leben weiter in ihm. Da es Winter ist, der See vereist ist, scheitert das Unternehmen. Also läßt ihn der Autor zu einer anderen Befreiung kommen, eben in Schaffhausen.

    Korim findet nächtens das Museum, verschafft sich mit seiner aufdringlichen Redekunst, die keiner versteht, Einlaß; er verwirrt den Nachtwächter, der einen Saalwächter, der ungarischer Abstammung ist, zu Hilfe ruft und nach vielen vergeblichen Bemühungen machen sie dem Eindringling klar, der Iglu von Mario Merz sei nur tagsüber zu besichtigen und sich darin niederzulegen sei schon gar nicht möglich, denn das Kunstwerk habe keinen Eingang. Korim hat schließlich ein Einsehen und trollt sich, aber zuvor übergibt er dem Saalwächter einen Zettel mit einem Satz darauf, den das Museum auf einer Tafel am Museum anbringen solle, damit er dem Künstler mit seiner Seele möglichst nahe sein könne. Korim verläßt das Musem und nimmt sich mit einer Pistole das Leben. Er hat erreicht, was er erreichen wollte. Was auf dem Zettel steht, verrät der Autor nicht. Nur so viel teilt er dem Leser mit: der Museumsdirektor ist bewegt von dieser merkwürdigen Geschichte und teilt als Schlußwort des Romans mit:

    "Es sei sein fester Entschluß, äußerte er, daß diese Tafel hängen werde, eine schlichte Tafel am Mauerwerk, auf der steht, was sich mit György Korim in seiner letzten Stunde ereignete, auf der wortwörtlich der Satz zu lesen ist, der auf dem Zettel steht, denn dieser Mann verdiene es, bei ihnen, und sei es im Text einer Tafel, Frieden zu finden, er, und der Direktor senkte die Stimme, für den das Ende in Schaffhausen kam, das Ende tatsächlich in Schaffhausen."

    Der Leser erfährt nicht, was auf diesem Zettel stand. Aber Krasznahorkai ist ein Schelm. Er hat tatsächlich im Juni das Geheimnis gelüftet. In einer Gedenkstunde an die fiktive Romangestalt Korim wurde am Schaffhauser Museum in einer künstlerischen Inszenierung der letzten Stunden Korims die von ihm geforderte Tafel angebracht. Fiktion wurde zur Realität, das gefällt Krasznahorkai. Soll ja keiner glauben, alles sei erlogen, Korim gäbe es gar nicht. Kunst und Leben sind näher beieinander als mancher glauben mag. In der ungarischen Originalausgabe des Romans ist als Lesezeichen eine Wegbeschreibung eingelegt, wie man nach Schaffhausen gelangen kann, um diesen letzten Satz Korims zu erfahren. Der Amann Verlag hütet in seiner Ausgabe das Geheimnis. Teilt dem Leser nicht einmal mit, welch Nachspiel der Roman gefunden hat, denn die Gedenktafel für Korim existiert wirklich, der fiktive Direktor des Museums hat keine hohlen Versprechungen abgegeben,

    Dieser Epilog könnte schöner nicht sein. Was Krasznahorkai so kunstvoll erfunden hat, was sein Übersetzer Hans Skirecki so überzeugend in deutsche Sprache gefaßt hat, ist nachzulesen auf der Tafel an den Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen. Die Kunst hat das Leben in der Kunst eingeholt.