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Kriegsziel Demokratisierung

Sha’aban Abdel Rahim, Ägyptens populärster Barde. Sein neuer Song "Kein Krieg gegen Irak" ist der absolute Renner. In Kairo, Alexandria, Beirut, Amman – in der ganzen arabischen Welt läuft dieser Underground Song. Die staatlichen Radios – sie bringen ihn nicht. Zu kritisch der Text, zu nah am Volk. Sha’aban gehört nicht zu den etablierten und gehätschelten staatlichen Künstlern. Sha’aban, der einstige Bügler aus einem Armenviertel in Kairo, drückt aus, was die überwiegende Mehrheit der Araber denkt und fühlt.

Reinhard Baumgarten | 24.03.2003
    Wir sagen alle nein, nein zu einem Angriff auf den Irak, nein zur Aggression gegen Palästina, nein. arabische Nation angegriffen.

    Amerika bringt dem Irak keine Demokratie. Seit 1990, seit dem kuweitisch-irakischen Krieg - ziehen die Amerikaner hier dieses Theater ab. Sie rufen zu Frieden auf und gleichzeitig verüben sie Verbrechen und demütigen Menschen.

    Dagegen Präsident Georg W. Bush:

    Ein befreiter Irak kann die Kraft der Freiheit zeigen, eine lebenswichtige Region umzuwandeln, indem Millionen Menschen Hoffnung und Fortschritt gebracht wird.

    Also spricht George Walker Bush. Der 43. Präsident der Vereinigten Staaten will das diktatorische Regime im Irak beseitigen und er will dem Zweistromland Demokratie bringen.

    Wir werden ein Zeitalter des Fortschritts und der Freiheit schaffen. Freie Menschen werden den Lauf der Geschichte bestimmen, und freie Menschen werden den Frieden der Welt bewahren.

    Mehr als 100.000 Menschen sind im großen Stadion von Kairo zu einer Protestveranstaltung zusammen gekommen. Sie wollen Demokratie, sie wollen Pluralismus, sie wollen Meinungsfreiheit. Die Menschen in der arabischen Welt wollen alle politischen Segnungen des Westens, die ihnen mit Duldung des Westens seit Jahrzehnten von ihren Königen, Präsidenten und Emiren vorenthalten werden. Aber sie wollen nicht von George Bush – dem sogenannten Führer der Freien Welt – befreit werden. Sherif Ibrahim, Organisator der größten Demonstration in Ägypten seit den Zeiten Gamal Abdel Nassers.

    Ich frage Herrn Bush: Kann man Demokratie durch Krieg bekommen? Wie kann ein Volk seinen freien Willen äußern, wenn du ihm deinen aufzwingst? Das ist doch dumm! Diese Dummheit und zweigesichtige Wahrheit kommt in der ganzen Historie nicht vor, die gibt es nur bei Herrn Bush.

    Mehr als 70 mal haben die USA bislang ihr Veto im UN-Sicherheitsrat eingesetzt – meistens zum Schutze Israels. Mehr als 30 mal hat Israel UN-Resolutionen, die mit Washingtons Zustimmung verabschiedet worden sind, ignoriert, nicht beachtet. Die Menschen in den arabischen Ländern glauben den USA nichts mehr. Sie glauben nicht an die demokratische Sendung Bushs. Ma’moun Hudeibi, Chef der ägyptischen Muslimbrüder:

    Bush sagt, er will zum Nutzen des irakischen Volkes in das Land einrücken, aber tatsächlich kommt er doch wegen des Öls und um die Leute zu unterwerfen. Was hat er denn nach mehr als einem Jahr in Afghanistan getan? Was haben die Kolonialisten der Vergangenheit denn den jeweiligen Ländern gebracht?

    Der größte Teufel ist Amerika, er möchte alles. Wir müssen unsere inneren Angelegenheiten in Ordnung bringen. Alle Diktatoren hier sind doch durch die Hilfe von Kolonialmächten an die Macht gekommen.

    Seit Jahrzehnten erleben die Araber Washingtons Nahost-Politik als einseitig und ungerecht. Sie erleben, wie Israel – die einzige Demokratie und der einzige Rechtsstaat im Vorderen Orient - mit Washintons Segen und Hilfe schalten und walten kann wie es will. Wie es illegale Siedlungen auf besetztem arabischen Land errichtet; wie es den eineinhalb Millionen Palästinesern im Westjordanland systematisch das Wasser abgräbt, Plantagen zerstört und angeblich widerrechtlich errichtete Häuser zerstört. Die Menschen in der arabischen Welt fühlen sich bedroht durch israelische Massenvernichtungswaffen. Und nun will George Bush im Namen der "freien Welt" den Irak entwaffnen, denn dieser besitzt auch Massenvernichtungswaffen. Aber wie steht es mit Israel, fragt Emille Lahoud, der libanesische Präsident.

    Wir weisen den Sicherheitsrat darauf hin, dass Doppelstandards nicht hinnehmbar sind. Israel muss die UN-Resolutionen zum Israelisch-Arabischen Konflikt umsetzen, und der Nahe Osten muss frei sein von ABC-Waffen, die sich in den Arsenalen des Juden-Staates stapeln.

    Den USA, sagt die große Mehrheit der arabischen Bevölkerung, geht es nicht um Demokratie. Es geht um die Vorherrschaft im Nahen Osten, es geht um die Neuordnung der gesamten Region. Saddam Hussein und seine Clique ist verhasst. Dennoch stimmen viele dem zu, was der irakische Außenminister Naji Sabri über die Kriegsziele der USA sagt:

    Wenn Colin Powell sagt, dass er die Region neu gestalten will, dann heißt das nicht, das er in ein Landvermesserbüro in Washington geht, um sich eine neue Karte zeichnen zu lassen. Es heißt doch ganz konkret, dass er die bestehenden staatlichen Einheiten zerschlagen will und sie zu neuen, kleinen Ländern zusammensetzen will, in denen Dauerkonflikte herrschen, die von Israel aus leicht gesteuert werden können.

    Trommeln gegen den Krieg, Trommeln gegen Amerika. Demokratie ja, aber nicht durch Krieg. Nicht durch einen Waffengang gegen ein Volk von Kindern und Halbwüchsigen. Knapp die Hälfte der 22 Millionen Iraker ist jünger als 15. Die von den USA und Großbritannien beschriebene Bedrohung, die angeblich vom Irak ausgeht, hält der Wirklichkeit nicht stand. 95 Prozent aller bekannten irakischen Massenvernichtungswaffen sind unter Aufsicht der UN-Waffeninspektoren bereits bis zu deren Abzug 1998 vernichtet worden. Die irakische Armee ist nach 12jährigen Sanktionen nur noch ein Schatten dessen, was sie während der Besetzung Kuweits war. Und damals schon waren die mit Hilfe westlicher Staaten und der Sowjetunion hochgerüsteten Truppen ein ungeordneter, ineffizienter Haufen. Während des sechs wöchigen Krieges gegen die alliierten Einheiten haben sie kein einziges feindliches Flugzeug, keinen Hubschrauber und keinen Panzer abgeschossen.

    Saddam Hussein ist ein blutrünstiger, brutaler Diktator. Er ist ein Massenmörder, der seinen Wahnsinn gegen sein Volk wie auch gegen Iraks Nachbarstaaten gerichtet hat. Im März ’88 hat er in der nordirakischen Stadt Halabscha mehr als 5000 aufständische Kurden vergasen lassen. Im gleichen Jahr hat er Giftgas gegen iranische Truppen eingesetzt. George Bush senior war damals Präsident der Vereinigten Staaten. Washington hat auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch den Irak nicht reagiert. Mit 15 Jahren Verspätung klagt die Bush-junior-Administration das Regime in Bagdad nun an. Washington hat in den 80er Jahren den Irak bei seinem Angriffskrieg gegen den Iran mit Satellitenaufnahmen und Geheimdienstinformationen unterstützt – getreu dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund.

    Amerika zieh’ deine Armeen zurück, die Araber werden dir in den Hintern treten.

    Die Menschen in den arabischen Ländern haben genug vom praktizierten Doppelstandard der Vereinigten Staaten. Es findet sich kaum jemand, der mit der Nahostpolitik Washingtons einverstanden ist.

    Nach dem 11. September 2001 hat in der arabischen Welt in weiten Teilen der Bevölkerung eine unverhohlene Schadenfreude darüber geherrscht, dass die USA nun einmal hautnah das erleben, was im Nahen Osten zum Alltag gehört: Leid, Schmerz, Trauer, Entsetzen über den unsinnigen Verlust von Menschenleben.

    George Bush will den Nahen Osten neu ordnen. Er setzt auf den Domino-Effekt. Wenn der Irak demokratisiert werde, so sein Kalkül, dann würden andere Staaten der Region bald folgen. Aber sein eigenes Außenministerium schätzt die Situation in der arabischen Welt ganz anders ein. In einer Analyse des State Departments vom 26. Februar diesen Jahres wird diesem Domino-Effekt laut einem Bericht der Los Angeles Times entschieden widersprochen. Die von Bush prophezeite Demokratisierung werde ausbleiben, heißt es darin. Die Stabilität der gesamten Region werde auf Jahre hinaus aufgrund der erschreckenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme untergraben. An demokratische Reformen sei nicht zu denken. Aber wer hört noch auf das State Department, nachdem dessen Chef, Außenminister Colin Powell, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen monatelang vergeblich versucht hat, den Irak-Waffengang international legitimieren zu lassen.

    Ein Krieg gegen den Irak wird die Pforten der Hölle öffnen, sagt Amr-Moussa, der Generalsekretär der Arabischen Liga. Ein Krieg gegen den Irak wird die gesamte Region nachhaltig destablisieren, sagt der Publizist Mohammed Sid Ahmed.

    Der Krieg gegen den Irak wird wahrscheinlich mehr Terrorismus hervorbringen und weitverbreitetes Chaos als Demokratie. Ich erwarte nicht, dass Krieg Krieg beendet. Krieg wird die Welt nur zuspitzen und nicht demokratisieren. Er wird nicht zu einer demokratischen Lösung führen.

    Februar 1979. Hundertausende beteiligen sich im Iran an Protesten gegen den amerikahörigen Schah von Persien. Rezah Pahlevi verlässt schließlich nach wochenlangen Demonstrationen sein Land. Radikale Kleriker setzen die Islamische Revolution ins Werk und verwandeln den Iran in eine Mullahkratie. Mehrere 10.000 amerikanische Berater, Agenten und Beamte im Iran haben die Wucht der Ereignisse damals im Vorfeld falsch eingeschätzt. Ein knappes Vierteljahrhundert später läuft die einzige noch verbliebene Weltmacht Gefahr, den Fehler zu wiederholen.

    Bagdad ist Kairo, Kairo ist Bagdad. Der Hass auf Amerika wird durch den Krieg gegen den Irak eine neue Qualität gewinnen, meint Dr. Mona Abdurrahman.

    Es war Präsident Bush höchstselbst, der eine Verbingung zwischen dem Terrornetzwerk al-Qa’ida und dem Terrorregime in Bagdad zu erkennen glaubte. Bush und Blair stützen ihre Behauptungen auf Geheimdienstberichte, die mittlerweile großteils als Fälschungen entlarvt worden sind.

    Der Irak ist ein sicherer Hafen für Terroristen, die den Iran, Israel und westliche Regierungen bedrohen. Die irakische Regierung hat offen die Anschläge vom 11. September gelobt. Al-Qaida-Terroristen sind aus Afghanistan entkommen und halten sich bekanntermaßen im Irak auf.

    Glaubwürdige Beweise dafür sind die USA bis heute schuldig geblieben. Aus gutem Grund, sagt der Publizist Mohammed Sid Ahmed. Nicht die konkrete und fassbare Verbindung zählt, sondern die unterstellte ideologische oder aber emotionale Nähe. Usama bin Laden hat kürzlich in einem als authentisch eingestuften Aufruf Saddam Hussein und dessen Clique als Ungläubige bezeichnet. Bin Laden weiß sehr genau, wie viele muslimische Regimegegner durch Saddams Terror umgekommen sind. George Bush, so Mohammed Sid Ahmed, geht es um etwas anderes.

    Terrorismus ist ein globales Thema. Länder wie der Irak werden als Vehikel gesehen, das mehr die Position von Terroristen stützt als die der USA. Es geht hier um ein fundamentales Konzept, ein strategisches Konzept von Bush. Alles kommt hier zusammen: der Irak hat verbotene Waffen, ist anti-amerikanisch und liegt in einer sehr kritischen Region. Dieses Land wird nun als eine Art Lehre genommen für alle, um jedem klar zu machen, dass es ihnen nicht zukommt, die priviligierte amerikanische Position der unipolaren Weltregentschaft in Frage zu stellen.

    Das Nein der Vetomächte Frankreich, Russland und China gegen eine Legitimierung des Irak-Krieges durch den UN-Sicherheitsrat ist ein Beleg für den wachsenden Widerstand gegen die von den USA exekutierte globale Einpoligkeit. Der Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung vor 13 Jahren hat die heutige Entwicklung eingeleitet. George Bush treibt die Einpoligkeit mit seinem bedingungslosen "wer nicht für uns ist, ist gegen uns" auf die Spitze. Jeder wird gezwungen, seine Position zu bestimmen.

    Im alten System waren beide Welten – die kommunistische und die kapitalistische – nicht in der Lage, die andere zu beseitigen. Dann ist eine zusammengestürzt. Als das geschah führte das zur Einpoligkeit. Ein Regime führte nun Legitimität des Systems weiter. Aber nicht alle Gesellschaften nehmen diese Hegemonie hin. In unterschiedlicher Weise wird es entweder akzeptiert oder nicht akzeptiert – innerhalb oder außerhalb der Spielregeln. Ein paar Franzen sind draußen geblieben. Das war ein neuer Pol, der Terroristenpol, der sich gegen das Regime gestellt hat. Es stimmt nicht, dass sich jedermann mit der amerikanischen Vorherrschaft abgefunden hat. Und Amerika schafft sich neue Feinde bei dem Versuch, seine Vorherrschaft zu verteidigen.

    In den 80er Jahren folgen Zehntausende junge Araber dem Aufruf zum Jihad. Sie gehen nach Afghanistan, um dort an der Seite der afghanischen Mudschahidin gegen die sowjetischen Eindringlinge zu kämpfen. Für sie ist der Jihad ein Gott gefälliger Abwehrkrieg zur Verteidigung des Islam. Die USA ermutigen damals junge Araber, in den Krieg nach Afghanistan zu ziehen; auf Wunsch Washingtons finanziert Saudi-Arabien die religiös motivierten Kämpfer; auf Wunsch Washingtons versorgt Pakistan sie mit Waffen und Logistik.

    Dann kommt im Februar ’89 der Abzug der Roten Armee. Die vielen Hunderttausend Mudschahidin in Afghanistan haben ihre Schuldigkeit getan. Der Kalte Krieg ist entschieden, der Sozialismus dem Untergang geweiht. Der demokratische Westen braucht die nützlichen Idioten nicht mehr, er lässt sie fallen und er überlässt Afghanistan seinem Schicksal und den Radikalen. Das ist der Anfang von al-Qa’ida. Viele arabische Kämpfer stranden in Afghanistan. In ihren Heimatländern werden sie als Gefahr und als mutmaßliche Extremisten angesehen. Sie bleiben am Hindukusch, sie gründen Familien, sie führen ein ihrer Meinung nach Gott gefälliges Leben. Der Sieg über die Rote Armee hat sie darin bestärkt, dass Gott mit ihnen ist. Nun entwickeln sie einen gefährlichen Hass auf den Westen – vor allem auf die USA. Der bisherige Höhepunkt ihres extremistischen Feldzugs gegen die Vereinigten Staaten ist der Anschlag vom 11. September. Ihr Anführer ist der gebürtige Saudi Usam bin Laden:

    Jeder amerikanische Mann ist ein Feind – ganz gleich, ob im direkten Kampf mit uns oder als Steuerzahler. Drei Viertel aller Amerikaner haben Clinton unterstützt, als er den Irak bombardieren ließ. Das ist ein Volk, das seine Präsidenten um so mehr liebt, je mehr unschuldige Menschen getötet werden. Und je mehr Sünden der Präsident begeht, um so beliebter ist er. Das ist ein schändliches Volk, das keine Ahnung von Werten hat.

    Szenen eines Prozesses im Kairoer Staatssicherheitsgericht Mitte der 90er Jahre. Gespenstisch das Auftreten der jungen, bärtigen Männer, die in einen Eisenkäfig gepfercht gerade ihr Todesurteil erfahren haben.

    Wir opfern unser Leben dem Islam, singen die Todeskandidaten, für die nach eigenem Bekunden alles ohne Wert ist, für die einzig und allein der Islam zählt – aber eben nur ihre eigene Variante des Islam.

    Kampf gegen religiös verbrämten Terror, Krieg gegen muslimische Extremisten, Auseinandersetzungen mit Islamisten. Ägypten weiß, was das bedeutet. In den 50er und 60er Jahren lässt Präsident Gamal Abdel-Nasser Zehntausende Muslimbrüder einsperren, Hunderte – wenn nicht Tausende- werden liquidiert. In den 70er Jahren fördert Präsident Anwar el-Sadat islamistische Studentengruppen, um den Einfluss von Kommunisten und Nasseristen zurückzudrängen. 1981 wird er von islamischen Fanatikern ermordet. In den 90er Jahren führen Islamisten einen blutigen Krieg gegen die Obrigkeit, gegen den verhassten Staat, den sie der Komplizenschaft mit dem ebenfalls verhassten Westen zeihen. Sie wollten einen Staat auf der Grundlage der Scharia, des Islamischen Rechts, errichten. Sie lehnen die westlichen Denkmodelle und Regierungsformen ab, sie sind gegen Sozialismus und Kapitalismus, für sie zählt als Gesellschafts- und Regierungsform nur der Islam in einer idealisierten Form aus dem 7./8. Jahrhundert. Mehr als 1200 Menschen kommen bei der Auseinandersetzung um - darunter auch über 100 ausländische Touristen.

    Höhepunkt des islamistischen Terrors der 90er Jahre ist das Massaker von Luxor mit 58 ermordeten Touristen. Das Blutbad vor mehr als fünf Jahren hat eine Wende eingeläutet. Denn der Schock über die grausame Tat und ihre Folgen erschüttert die ägyptische Gesellschaft bis ins Mark. Extremistengruppen wie al-Gama’at al-Islamiya und Gihad Islami verlieren endgültig jede Unterstützung in der Bevölkerung. Wenige Monate nach dem Massaker erklärt die Gama’at al-Islamiya den bewaffneten Kampf gegen den ägyptischen Staat für beendet. Seitdem hat es in Ägypten keine nennenswerten Anschläge mehr gegeben.

    Das konsequente Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte gegen islamistische Gruppen hat viele Tausend ihrer Sympathisanten und Anhänger hinter Gitter gebracht. Viele Hundert haben das Land verlassen, darunter auch Ayman al-Zawahiri. Der gelernte Chirurg ist der Chef der Terrororganisation Jihad Islami. Al-Zawahiri gilt als die rechte Hand Osama bin Ladens, er gilt als dessen Hirn und Vordenker.

    Amerika und seine Verbündeten müssen wissen, dass ihre Verbrechen nicht ungesühnt bleiben werden, so Gott will. Wir raten ihnen, sich schleunigst aus Palästina, dem Golf, Afghanistan und den anderen muslimischen Staaten zurück zu ziehen, bevor sie alles verlieren.

    Ayman el-Zwahiri und Osama bin Laden können mit George Bushs Entscheidung zufrieden sein. Der Krieg gegen den Irak wird dem Terrornetzwerk neue Kämpfer zuführen. Der Krieg gegen den Irak wird den von bin Laden und al-Zawahiri herbeigesehnten Zusammenprall der Kulturen wahrscheinlicher machen. Der Krieg gegen Irak droht den Westen und vor allem Amerika noch mehr zur Zielscheibe religiös bemäntelter Extremisten zu machen. Sherif Ibrahim:

    Ich befürchte, es wird zu einer Welle von Vergeltung gegen amerikanische Interessen kommen. Diese Racheakte werden gar nichts mit Islamisten oder Extremisten zu tun. Das einfache Volk wird über die Ursachen all der Probleme nachsinnen und zu dem Schluss kommen: Amerikas Politik. Ich fürchte, dass alle amerikanische Interessen gefährdet sein werden.

    George Walker Bush gilt als gläubiger Mann. Er glaubt an das Gute, und er glaubt an das Böse. Bagdad, Teheran, Pjöngjang – das ist die Achse des Bösen. Washington, Madrid, London – das sind die Guten, die Allianz der Willigen. Der Lebenswandel von Bush junior war einst nicht so tadellos. In alten Zeitungsberichten ist die Rede von Alkolholproblemen und unstetem Lebenswandel. Lange vorbei, denn George Walker Bush hat auf den Pfad der Tugend zurückgefunden – dank sei Gott. Der 43. Präsident der Vereinigten Staaten ist ein wiedergeborener Christ. Sein Waffengang gegen den Irak ist mehr als nur das Streben nach Öl und Vormacht im Nahen Osten. Es geht ihm nicht nur darum, das irakische Volk mit den Segnungen der Demokratie zu beglücken. Der Krieg gegen den Irak ist sein Beitrag zum Kampf gegen das Böse. Unter den Christen im Nahen Osten kommt dieses religiös verbrämte Sendungsbewusstsein nicht gut an. Die gut sechs Millionen Kopten Ägyptens sind genauso entschlossen gegen den Krieg wie ihre muslimischen Landsleute. Anba Moussa, koptischer Bischof auf einer Anti-Kriegskundgebung in Kairo:

    Sie sagen, Präsident Bush lese jeden Tag die Bibel. Ich aber frage ihn: Herr Präsident, haben sie in der Bibel gelesen, "gelobt seien die Friedensstifter"? Haben sie das Wort Jesu gelesen: "Frieden hinterlasse ich Euch, meinen Frieden gebe ich Euch"? Haben sie in der Bibel den Brief von Paulus gelesen: "Lebe in Frieden und der Herr des Friedens wird mit Dir sein"?

    George Bush und Tony Blair werden nicht müde zu betonen, der Krieg richte sich nicht gegen das irakische Volk. Aber die intelligenten Waffen
    made in USA sind nicht schlau genug, um zwischen Zivilisten und Saddam Hussein sowie dessen Helfer und Helfershelfer zu unterscheiden. Zehntausende unschuldige Menschen, so fürchtet Bischof Anba Pisenti, werden durch amerikanische Waffen ums Leben kommen.

    Das irakische Volk lebt in Frieden, warum sollen sie jetzt angegriffen werden? Wir lehnen jede Aggression gegen das irakische Volk ab, wir weisen auch die Gewalt gegen Palästina und die Palästinenser entschieden zurück.

    Die Koptische Kirche Ägyptens hat schon lange viele Vorbehalte gegen Washingtons Nahostpolitik. Die einseitige Unterstützung Israels durch die USA wird als einer der Hauptgründe für den sich verschärfenden Nahostkonflikt angesehen. Papst Shenuda III., Oberhaupt der gut fünf Millionen Kopten Ägyptens.

    Wenn wir über den Kampf gegen Terrorismus sprechen, dann meinen wir jedermanns Terrorismus in allen Ländern. Wir erinnern hier daran, wie es unseren Brüdern im Heiligen Land ergeht, wie sie leiden, wie sie getötet und aus ihren Häusern vertrieben werden.

    Vor wenigen Tagen hat die koptische Kirche gemeinsam mit den Muslimbrüdern und der islamistischen Opposition in Kairo zu einer Massenkundgebung gegen den Irak-Krieg aufgerufen. An die 140.000 Menschen kommen. Sie alle eint eine Sorge: Welche Unbilden wird George Bushs Kampf gegen das Böse über die Länder des Nahen Ostens bringen? Der US-Präsident gilt vielen Menschen in der Region als weitaus gefährlicher als der irakische Diktator Saddam Hussein. Bischof Anba Moussa:

    Meine Lieben, das ist kein Kreuzug. Das ist Kolonialisierung! Zionisten und blutigen Krieg weisen wir von ganzem Herzen zurück. Sie haben Israels Sünden vergessen, sie haben seine Besatzung vergessen, seine Siedlungen. Und sie haben vergessen, dass es jeden Tag unschuldige Palästinenser abschlachtet, denen gerade noch ein Fünftel ihres Landes geblieben ist, während sie vier Fünftel usurpiert haben.

    Ein befreiter Irak kann die Kraft der Freiheit zeigen, eine lebenswichtige Region umzuwandeln, indem Millionen Menschen Hoffnung und Fortschritt gebracht wird.

    Ob George Bush wirklich weiß, worauf er sich einlässt? Mehr noch als den Krieg und die unmittelbaren Begleiterscheinungen fürchten viele Menschen im Nahen Osten die Zeit danach. Kein Land im Nahen Osten weist derart viele gefährliche gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen auf wie der Irak. Im Norden die Kurden: Saddams Truppen haben einen mörderischen Krieg gegen sie geführt, haben sie vertrieben und in ihren angestammten Gebieten regimetreue sunnitische Araber angesiedelt. Die Kurden sinnen auf Rache, und sie wollen zurückkehren.

    Im Süden die Schiiten. Sie stellen mit knapp 60 Prozent die Bevölkerungsmehrheit im Irak. Sie sind in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten systematisch und massiv unterdrückt worden. Sie haben im März ’91 – ermutigt durch die USA - den Aufstand gegen Saddam geprobt, wurden von Washington im Stich gelassen und von Saddams Schergen brutal zusammenkartätscht. Bei freien Wahlen könnten sie leicht eine Parlamentsmehrheit erringen. Die Drangsal der vergangenen Jahre hat viele Schiiten radikalisiert. Würden die USA eine islamistisch gefärbte Regierung dulden, die sich ideologisch nach Teheran ausrichtet?

    Systematisch hat Saddam Hussein die Clan- und Stammeswirtschaft im Irak gefördert. Systematisch hat er die verschiedenen Stämme gegeneinander ausgespielt und aufeinandergehetzt. In keinem Land der Welt dürfte es derart viele offene Rechnungen geben wie im Irak. Wollen die USA für stabile Verhältnisse sorgen, dann müssen sie ein strenges Regime führen. Wollen sie diese traditionelle Konsensgesellschaft in eine demokratische Gesellschaft umwandeln, in der auch knappe Mehrheiten von allen Seiten akzeptiert werden, dann brauchen sie einen sehr langen Atem.

    Und sie brauchen Geld, viel Geld. Der Krieg wird zwischen 40 und 300 Milliarden Dollar kosten; 25 Milliarden Dollar wird die Stationierung der US-Truppen pro Jahr kosten; die Erneuerung der heruntergekommenen Ölindustrie ist dringend geboten – Experten kalkulieren mit mindestens sieben Milliarden Dollar an Investitionen; Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Verkehrswege müssen erneuert werden – erste Schätzungen gehen von Kosten aus, die bei über 100 Milliarden Dollar liegen.

    Ramsis Labib ist Schriftsteller. Der 64jährige hegt keinerlei Sympathie für Saddam Hussein. Ramsis Labib ist ein eifriger Befürworter von Demokratie. Seit mehr als 22 Jahren herrscht in Ägypten der Ausnahmezustand, sagt Ramsi Labib. Seit mehr als zwei Jahrzehnten regiert Husni Mubarak ohne echte demokratische Legitimierung. Die USA hat das nie gestört, sagt Ramsi Labib.

    Die Irakis müssen sich um Demkoratie kümmern, die Araber und alle anderen Völker müssen das selbst tun – aber ohne amerikanischen Befehl. Die Amerikaner haben immer konservative Regime und Gegner von Demokratie gestützt. Sie werden mit Sicherheit nicht diejenigen sein, die im Irak für demokratische Verhältnisse sorgen. Kümmert es die Amerikaner, was in Palästina geschieht?

    Nein, sagt Mohammed Sid Ahmed, es kümmert sie nicht. Seitdem George Bush im Amt ist, hat sich die Situation für die Palästinenser drastisch verschlechtert. Amerika, sagt der Publizist, messe mit zweierlei Maß. Widerstand gegen die israelische Besatzung werde von Bush als Terrorismus angesehen. Israels Gewalt gegen die Palästinenser hingegen als legitime Selbsverteidigung.

    Es wird auch weiterhin lange Zeit Doppelstandards geben, denn das ist ein Weg, die herrschende Einpoligkeit auszudrücken. Ein einpoliges System legt zwei unterschiedliche Standards für zwei unterschiedliche Kategorien von Völkern an: Israel darf Nuklearwaffen besitzen, die Araber dürfen keine Nuklearwaffen besitzen. Rückkehrrecht für jeden Juden irgendwo auf der Welt geht in Ordnung. Eine Million Russen, die nie irgendetwas mit dem Nahen Osten zu tun hatten, dürfen nach Israel kommen, aber ein Palästinenser, dessen Vorfahren seit Generationen in Palästina gelebt haben, kann nicht, weil er rausgeschmissen worden ist.

    Vielleicht hat George Bush mehr Stehvermögen und mehr Willen zur Demokratisierung des Iraks als die Menschen im Nahen Osten ihm zutrauen. Vielleicht sind die Risse innerhalb der irakischen Gesellschaft zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionsgruppen weniger tief als angenommen. Vielleicht kommt es nicht zum Bürgerkrieg im Irak, zu gewaltigen Flüchtlingsströmen, zu Massenprotesten mit anti-amerikanischen Ausschreitungen in weiten Teilen der muslimischen Welt. Vielleicht besinnen sich die von Washington gestützten Autokraten und gewähren ihren Untertanen mehr bürgerliche und politische Freiheiten. Die mangelnde Mitwirkung an politischen und gesellschaftlichen Prozessen, so hat im vergangenen Sommer eine Studie der Vereinten Nationen festgestellt, ist hauptverantwortlich für die technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit der arabischen Welt. Die Rückständigkeit wiederum ist ein wichtiger Grund für die sich ausbreitende soziale Verelendung weiter Teile der Bevölkerung und die oftmals damit einhergehende Radikalisierung und Hinwendung zu erzkonservativen Traditionen. Sollten sich Bushs Demokratisierungsschwüre als Meineid erweisen, dann ist Demokratie als Regierungsform auf unabsehbare Zeit unter den Muslimen diskreditiert. Der Ruf al-Islam hual Hal – der Islam ist die Lösung – dürfte lauter und lauter werden.