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Kriminalität im Pflegesystem
Gut gepflegt - oder gepflegt betrogen?

Rund 14.000 ambulante Pflegedienste gibt es in Deutschland, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen zu alten oder kranken Menschen ins Haus und pflegen sie dort. Doch nicht immer wird geleistet, was bezahlt wird. Der Abrechnungsbetrug ist so lukrativ, dass sich schon die organisierte Kriminalität dafür interessiert. Eine Gesetzesänderung soll Abhilfe schaffen.

Von Katrin Sanders und Arne Meyer-Fünffinger | 27.06.2016
    Krankenhaus
    Viele Menschen sind auf Pflege angewiesen. Aber nicht immer wird das geleistet, was abgerechnet wird. (imago/Gerhard Leber)
    An einem Donnerstagmorgen Ende April schlug die Polizei zu. Rund 100 Beamte durchsuchten die Geschäftsräume des ambulanten Pflegedienstes in Berlin-Spandau. Dazu mehrere Wohnungen in der Bundeshauptstadt und im Umland. Zwei Jahre dauerten die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt schon. Die Geschäftsführerin des Pflegedienstes, Ekaterina S., wurde festgenommen. Bei der anschließenden Vernehmung, sagt Thomas Neuendorf, Kriminalhauptkommissar von der Berliner Polizei, habe die Hauptverdächtige in großen Teilen gestanden.
    "Also der Hauptvorwurf ist, dass die Pflegeversicherungen betrogen wurden, indem man Pflegeleistungen abgerechnet hat, die so nie erbracht wurden."
    Mit anderen Worten: Die Angestellten dieses Pflegedienstes waren wohl bei den Patienten zu Hause. Aber was sie dort geleistet haben, entsprach bei weitem nicht dem Honorar, das die Kassen zahlten. Den Kranken- und Pflegekassen soll so ein Schaden in Höhe von rund einer Million Euro entstanden sein.
    Dieser Fall eines mutmaßlich betrügerischen Pflegedienstes ist einer von Hunderten, denen die Ermittlungsbehörden in Deutschland momentan nachgehen. Aber: Er ist exemplarisch. Kriminalisten sagen manchmal: geradezu gemalt. Denn er passt perfekt in das Bild von kriminellen Aktivitäten in der Pflege-Szene, welches das Bundeskriminalamt in einer geheimen Analyse entworfen hat – die jedoch im April vom Bayerischen Rundfunk und der "Welt am Sonntag" in Teilen veröffentlicht wurde. Die Geschäftsführer des Spandauer Pflegedienstes: aus den ehemaligen Sowjet-Staaten. Der Vorwurf: bandenmäßig und organisiert begangener Betrug. Dem Anschein nach daran beteiligt: Mitarbeiter des Pflegedienstes und, so Thomas Neuendorf von der Polizei Berlin: "Das … sagen wir mal … Besondere an der ganzen Geschichte ist, dass hier auch die Patienten mitgespielt haben. Also hier gab´s regelrechte Abmachungen: Täusche vor, dass du überhaupt nicht mehr gehen kannst, damit du in eine höhere Pflegestufe kommst. Und dafür zahlen wir dir dann jeden Monat 100, 200 Euro zurück. Sogenannte Cash-Back-Verfahren. Sodass eben beide Seiten an diesem Betrug verdient haben."
    Pflegedienste als Geschäftsfeld der organisierten Kriminalität
    Ganz neu sind diese Vorgehensweisen nicht. Seit Jahren gibt es immer wieder Meldungen, dass die Staatsanwaltschaft gegen Pflegedienste ermittelt, die in Verdacht stehen, die Sozialkassen betrogen zu haben. Besonders häufig ging es dabei um Berliner Unternehmen. Die BKA-Analyse machte jedoch erstmals deutlich: Es handelt sich um ein bundesweites Problem.
    Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl Josef Laumann (CDU).
    Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl Josef Laumann (CDU). (imago/IPON)
    "Also zuerst einmal bin ich von der Heftigkeit dieser Entwicklung schon ein bisschen überrascht." So reagierte der Patienten- und Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, auf die ersten Medienberichte im April. Und nicht nur die bundesweite Verbreitung schreckte Experten auf. "In Einzelfällen sind Informationen bekannt, laut denen die Investition in russische, ambulante Pflegedienste ein Geschäftsfeld russisch-eurasischer organisierter Kriminalität ist."
    Diese Passage aus dem BKA-Bericht sorgte für geradezu schockierte Reaktionen. Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte und Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion. "Diese Dimension – wenn sich das bestätigen sollte – das ist einer der größten Skandale im Gesundheitssystem der letzten Jahrzehnte. Wenn es wirklich diese Dimension hat."
    Patienten, die Pflegebedürftigkeit vortäuschen
    Pflegedienste, die nicht erbrachte Leistungen abgerechnet, Patienten, die Pflegebedürftigkeit vorgetäuscht, Ärzte, Apotheker, Angehörige, die dabei mit kassiert haben – es sind keine Einzelfälle, es hat System. Zu diesem Schluss ist das BKA nach jahrelangen Ermittlungen und Auswertungen von Daten aus den Ländern gekommen.
    Besonders viele Auffälligkeiten werden gemeldet aus, Zitat, "Regionen mit einem hohen Bevölkerungsanteil an russischsprachigen oder russischstämmigen Personen". Deutlicher wurde die Behörde an dieser Stelle nicht. Schwerpunkte sind neben Berlin vor allem Niedersachsen – und Nordrhein-Westfalen. So veranlassten Betrugsfälle der vergangenen Jahre die Landesregierung in Düsseldorf kürzlich dazu, bei den Krankenkassen abzufragen, wie viele Fälle bekannt sind bzw. angezeigt wurden.
    NRW- Gesundheitsministerin Barbara Steffens: "Im Kölner Raum hat es ja schon vor einigen Jahren eine Betrugssituation gegeben. Da gab’s zehn Strafanzeigen. Wir haben auch die anderen Regionen abgefragt. Also in Duisburg hat es laut Stadt überhaupt keine Betrugsfälle gegeben. Wir haben dann die Zahlen von den AOKen, von beiden: AOK Nordwest hatte 160 Ermittlungsverfahren. AOK Rheinland/Hamburg hat seit 2010 fünf ambulanten Pflegediensten die Zulassung entzogen wegen vergleichbarer Fälle, und hat in den vergangenen 15 Monaten 141 Fälle von Fehlverhalten genannt bekommen, wovon 62 mit Strafverfahren abgeschlossen wurden. Wir haben dann noch eine Reihe von anderen Kassen gefragt. Beim vdek haben wir 70 Ermittlungsverfahren genannt bekommen, IKK classic 44 Fälle."
    Nur inoffizielle Schätzungen zum Schaden
    In der Summe geht es in Nordrhein-Westfalen um 400 bekannt gewordene Betrugsfälle. Bei rund 600.000 Pflegebedürftigen im Land mag das überschaubar klingen. Doch den Betrug gab es vor allem bei der besonders lukrativen Intensiv-Pflege. Zum Beispiel, wenn ein Patient auf dauerhafte Beatmung angewiesen ist, was aus Mitteln der Krankenkassen deutlich höher bezahlt wird, als die vielen einzelnen Handgriffe in der Pflegeversicherung.
    "So ein Patient kann ja leicht 15.000 bis 20.000 Euro pro Monat kosten. Und wenn ich dort durch Betrug die Kosten, die mir selbst entstehen, um 5.000 bis 10.000 Euro nur drücke, ich gebe nur halb so viel aus, wie ich bekomme, dann mache ich damit einen Nettobetrugsschnitt von 10.000 Euro pro Monat. Und mach ich das bei nur zehn Leuten auch nur, dann mache ich einen Nettobetrugsschnitt von 50.000 bis 100.000 Euro mit nur zehn Betrugsfällen. Und da wird gar nicht kontrolliert", erklärt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.
    Der Schatten von BKA-Präsident Holger Münch wirf auf eine Stellwand mit der Aufschrift "Bundeskriminalamt" geworfen (18.11.2015).
    Das BKA spricht von einem bundesweiten Problem. (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
    In Bayern haben Kassen ebenfalls Auffälligkeiten festgestellt. An einem landesweiten Überblick arbeitet die Staatsregierung zurzeit. Unklar ist noch, wie hoch die gesamte Schadenssumme ist, die die kriminellen Pflegedienste Jahr für Jahr in den Kranken- und Pflegekassen verursachen – zum Schaden der Allgemeinheit. Inoffizielle Kassenschätzungen liegen bei etwa einer Milliarde Euro jährlich, einige Experten gehen von mindestens zwei Milliarden Euro aus. Das BKA hat sich bis heute auf keine Summe festgelegt, ebenso wenig wie Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe.
    "Es ist in der Tat so, dass bis heute es noch keine Möglichkeit gibt, die verschiedenen Ermittlungsvorgänge, die ja in der polizeilichen Verantwortung sind, schon zusammenzuführen zu einem Bild eines Gesamtschadens. Aber jeder Betrug zu Lasten von Pflegebedürftigen, Pflegekräften und von den Angehörigen in den Familien kann nicht hingenommen werden."
    Gesetzeslücke ausgenutzt
    Möglicherweise drückt der Minister sich so zurückhaltend aus, weil inzwischen klar geworden ist, dass der Betrug nur dank einer Gesetzeslücke möglich war – um die sich bislang aber keine Regierung ausreichend gekümmert hat. Denn gesetzlich sind Pflege und Medizin getrennt, das heißt: Eigentlich soll im Pflegesystem kontrolliert werden, was an Pflege geleistet wird – und die Krankenkassen sollen kontrollieren, was medizinisch geleistet wird. Aber: "Es ist auf jeden Fall so, dass die Krankenkasse bisher für den Pflegebedarf, den sie bezahlt, das ist die medizinische Pflege, überhaupt nicht kontrollieren konnte. Und wenn, dann angemeldet. Also die eigentlich teure medizinische Leistung, die ja zum Teil viel aufwendiger ist als die pflegerische Leistung, die von der Pflegeversicherung bezahlt wird (und auch viel besser kontrolliert werden kann), dafür gab’s bis zum jetzigen Zeitpunkt (aber das haben wir jetzt geändert) zum Teil gar keine Kontrollen. Und das ist natürlich eine Lücke gewesen, die hier genutzt wurde."
    Ärzte, die Menschen krankgeschrieben und intensive Pflege verordnet haben, waren schon vorher in den Fokus von Ermittlern und Politik geraten. Im April hatte der Deutsche Bundestag das Anti-Korruptionsgesetz verabschiedet – allerdings auch erst nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs. Bis dahin machte ein Arzt, der etwa Geschenke von einem Pharmaunternehmen dafür annahm, dass er dessen Medikamente verschrieb, sich nicht strafbar.
    Ein Arzt hält Tabletten in der Hand.
    Korruption ist jetzt auch für niedergelassene Ärzte strafbar. (imago/STPP)
    "Da haben wir auch die Strafbarkeit für Korruption für niedergelassene Ärzte eingeführt. Davon sind auch Ärzte betroffen, die hier beispielsweise bei der Pflege mit von der Partie sind. Da werden oft bestimmte Leistungen, teure Hilfs- und Heilmittel veranlasst durch den Arzt, der mit von der Partie sein kann. Gott sei Dank ist auch das sehr selten, aber der hat jetzt eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu erwarten. Das wird hoffentlich auch eine abschreckende Wirkung haben."
    Kassen bekommen erweiterte Kontrollbefugnisse
    Die Kontrolllücke, die sich jenseits dieses neuen Korruptionsparagrafen auftut, will die Bundesregierung nun mithilfe des dritten Pflegestärkungsgesetzes schließen. Diesen Dienstag steht es auf der Tagesordnung des Kabinetts. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe: "Betrug zu Lasten der Gesundheit von Pflegebedürftigen, zur Plünderung der Pflegekassen darf nicht hingenommen werden. Wir schützen Pflegekräfte vor dem Misskredit durch Schmutzfinken, und wir schützen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, und dafür kämpfe ich."
    Konkret bedeutet das: Die Kassen bekommen erweiterte Kontrollbefugnisse. Juristisch mag das einfach klingen, sozialpolitisch ist es umstritten. Denn es betrifft den schmalen Grat zwischen legitimem Kontrollbedürfnis und zu schützender Privatsphäre. Der Verdacht unsauberer Abrechnungen und gemeinsamer Sache zum Nachteil der Kassen könnte fälschlicherweise auch die fortschrittlichen Versorgungs- und Wohnformen treffen, jenseits der Pflegeheime werden sie von der Bundesregierung sogar gezielt fördert. Es geht um Demenz-WGs, ambulante Intensiv-Pflegewohngruppen, selbstbestimmtes Leben mit Behinderung. Landesministerin Barbara Steffens:
    "Das heißt, was man im Gesetz verankern kann, ist, dass der Pflegedienst selbst kontrolliert wird mit seiner Buchführung, mit seinen Unterlagen, dass es da unangemeldete, angemeldete, wie auch immer, Prüfungen gibt. Wo es aber ganz schwer wird, ist zu sagen, wir wollen die Überprüfung haben, ob denn die Pflege auch stattfindet und der Pflegebedürftige der Pflegebedürftige ist. Da wird es schwierig, deswegen muss das auch vom Bund klar respektiert werden, dass natürlich jetzt nicht alle Pflegebedürftigen im Land plötzlich Angst haben, da steht unangemeldet der Prüfdienst vor der Tür ... dass nicht der Pflegebedürftige und der eigentliche Grund des Pflegedienstes - nämlich, dass ein Mensch das bestmögliche selbstbestimmte Leben ermöglicht bekommt - dass das ins Hintertreffen gerät, und die Kontrolle die Pflege und alles andere überschattet. Das darf es natürlich nicht sein."
    Meldepflicht für ambulante Pflegedienste
    Konzentration also zunächst auf die ambulanten Dienste selbst. Das ist der Weg, den die NRW-Ministerin auch auf der Konferenz mit ihren Länder-Kollegen in dieser Woche diskutieren will. Mit einer Meldepflicht für ambulante Pflegedienste ist Steffens bundesweit voran gegangen. Bis zum 30. Juni müssen sich alle bei der Kommune registrieren lassen.
    Ambulante Pflege der Caritas in Marx: eine Pflegerin hilft einer alten Frau beim Aufstehen.
    Mehr Transparenz in der ambulanten Pflege ist gefordert. (Deutschlandradio / Brigitte Lehnhoff)
    Ein Generalverdacht gegenüber der ambulanten Pflege sei nicht angebracht, betont die Ministerin. Man brauche aber mehr Transparenz, wer in der Pflegelandschaft wie unterwegs ist: "Pflegedienste schließen, machen irgendwann wieder auf, und man hat einfach eine bessere Handhabung, wenn solche Pflegedienste, die auffällig sind, sich woanders wieder zulassen wollen, dann kann man vielleicht auch schneller zwischen den Kommunen eine Vernetzung haben, um solche Sachen zu umgehen. Ich glaube, es ist ein wichtiges Signal, dass es nicht mehr was ist, wo man einfach einen Laden auf- und mal wieder zumachen kann. Sondern durch diese Meldepflicht ist es klar: Hier gibt es eine öffentliche Behörde, die weiß, wer macht eigentlich vor Ort was, und dann vielleicht auch genauer hinschaut."
    Auch vermeintliche kleine Dinge summieren sich zu großen Schäden
    Zum Handeln sind einmal mehr auch die Kassen selbst aufgefordert. Unter bestimmten Umständen, nämlich wenn sie Verdacht hegen, dürfen sie schon jetzt sehr wohl unangemeldet kontrollieren. Hinweise auf Unregelmäßigkeiten gibt es durchaus genug. Das erfährt Ulrike Kempchen von der Bundesinteressenvertretung der alten und pflegebetroffenen Menschen, BIVA, regelmäßig am Beratungstelefon: "Die Menschen melden sich bei uns und erzählen, was bei ihnen entweder zu Hause bei der ambulanten Pflege oder eben auch in den Einrichtungen passiert. Nehmen wir zum Beispiel: Jemand lässt Zettel hinsichtlich der geleisteten Arbeiten gar nicht abzeichnen, sondern rechnet direkt mit der Pflegekasse ab. Oder aber, es passiert, dass Leistungen dort abgerechnet werden, die so nicht erbracht wurden."
    Warum die Kassen das akzeptieren ...?
    "Das fragen wir uns auch immer wieder, wieso das kommt. Also, es ist tatsächlich so, dass Angehörigen nach einem halben Jahr auffällt: Ich habe noch nie etwas unterschrieben. Aber die Pflege läuft und augenscheinlich wohl auch die Abrechnung. Es gibt auch die Variante, dass die Leistungszettel tatsächlich zu Hause von Vater oder Mutter unterzeichnet wurden, die aber gar nicht mehr geschäftsfähig sind."
    Bis zu zehn Hinweise gehen pro Woche bei der Interessenvertretung BIVA ein. Bei 2,5 Millionen zu Pflegenden summieren sich auch viele vermeintlich kleine, falsch abgerechnete oder nicht getätigte Leistungen zu einem ansehnlichen Schaden für die Kassen, rechnet die Organisation aus Bonn vor. Die Hinweise von Angehörigen, die immerhin als erste die Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung bemerken, könnten den Kassen eigentlich die so dringend benötigten Anlässe für Kontrollen liefern.
    "Es gibt besondere Stellen, die gerade für Unregelmäßigkeiten im Finanzbereich zuständig sind, diese besonderen Stellen können auch von den Pflegekassen benannt werden. Regelmäßig sind die Pflegekassen hilfsbereit, versuchen auch, zu unterstützen. Aber wir kennen auch Fälle, dass Angehörige sich bei uns gemeldet haben und verzweifelt waren, dass ihre Beschwerden scheinbar entweder nicht ernst genommen oder nicht weiter verfolgt wurden. Dass der Eindruck entstanden ist: Die Pflegekasse tut nichts."
    Wer schwer krank ist, ist abhängig von den Helfern
    Wer jetzt mehr Kontrollen fordert oder verspricht, muss wissen: Der Medizinische Dienst der Krankenkassen beschäftigt 700 Qualitätsprüfer. Angesichts von 12.000 Pflegeheimen und 14.000 ambulanten Diensten kann es bestenfalls stichprobenhafte Kontrollen geben. Bei fünf Prozent der Heime und ambulanten Dienste geschieht das bisher - sofern ein Anlass beziehungsweise Verdacht da ist. Mehr Kontrollbefugnisse würden bedeuten: Mehr Personal bei den Kontrollstellen wäre notwendig. Gernot Kiefer, Vorstandsmitglied des GKV-Spitzenverbandes:
    Die Gesundheitskarte
    Krankenkassen sollen mehr Kontrollrechte bekommen. (dpa/picture alliance/Harald Tittel)
    "Im Moment ist es so, wir haben kein systematisches Prüfrecht bezogen auf häusliche Krankenpflege. Wir prüfen bezogen auf die Leistung der Pflegeversicherung. Aber wenn sie ambulant erbracht werden, dann ist die Prüfvorgabe ‚alle halbe Jahr, und nicht unangemeldet‘. Und damit ist man instrumentell auf der Verliererstraße."
    Und so lange noch in vielen Köpfen fest verankert ist, dass Pflegeleistungen "gewährt werden", bleibt wohl auch aktive Gegenwehr bei Angehörigen und Fachkräften, die im System nicht mitspielen wollen, die Ausnahme. Tatsächlich aber zahlen Heimbewohner mehr als die Hälfte der vereinbarten Leistungen aus eigener Tasche. Auch die ambulante Pflege wird von den Versicherten zur Hälfte selbst finanziert - das gilt auch für falsch abgerechnete oder gar nicht erbrachte Leistungen. Eine andere Dienstleistung, bei der sich Kunden das bieten lassen würden, ist kaum vorstellbar. In der Pflege ist das offenbar noch anders. Wer schwer krank ist, ist abhängig von den Helfern. Kritik und Beschwerde fallen da besonders schwer.
    Neues Gesetz soll kommen
    Wenn das Gesetz zur Kontrolle in der Pflege nun durch die parlamentarischen Beratungen geht, wird es sicherlich noch längere Debatten darüber geben, welcher Betrug wie eingedämmt werden könnte. SPD-Fraktionsvize Lauterbach hat dazu ein paar Ideen.
    "Also, was mir persönlich vorschwebt ist, dass es da unangemeldete Kontrollen gibt vonseiten der Krankenkassen und der Dienste der Krankenkassen, die diese Kontrollen durchführen. Sodass also geprüft werden kann: Gibt’s den Patienten? Wird er gepflegt wie veranlasst und bezahlt? Und die Kontrolle muss auch dann abgeglichen werden können mit den Kontrollen der medizinischen Dienste, die für die Pflegekassen die Kontrolle machen. Alle drei Dinge wären Verschärfungen, wenn wir die so beschließen, wovon ich ausgehe."
    Für die Zukunft der Pflege und die Bekämpfung von Unregelmäßigkeiten im System wird diese Woche sehr wichtig. Das Kabinett bringt den Gesetzentwurf auf den parlamentarischen Weg, der Abrechnungsbetrug – Zitat aus der Gesetzesbegründung – "so weit wie möglich" verhindern soll. Das klingt nach einem bescheidenen Ziel, aber von Betrugssicherheit ist das Pflegesystem auch noch sehr weit entfernt, räumt der Bundesgesundheitsminister ein. "Es bleibt dann eine Aufgabe, weil es immer auch kriminelle Energie geben wird, dieses Recht auch konsequent anzuwenden. Insofern wird es auch auf der Tagesordnung, nicht zuletzt auf der (von) auf Landesebene für die Umsetzung dieser Vorschriften Verantwortlichen sein, zu sehen, dass Gesetzesverschärfungen auch zu erhöhtem Aufklärungs- und Ermittlungsdruck führen."
    Lukrativer als der Drogenhandel
    Was Insider aus der Ermittler-Szene berichten, klingt wenig ermutigend. Demnach werden Kriminelle, die die Pflege gerade erst als Betätigungsfeld entdeckt haben, so schnell nicht davon lassen. Denn sie sei lukrativer als der Drogenhandel und deutlich unkomplizierter als das Verschieben von Gebrauchtwagen, sagt einer.
    Hinzu kommt: Dieser Milliarden-Markt wächst mit der Zahl der Pflegebedürftigen stetig, nicht nur hier, sondern in ganz Europa. Zu diesem Fazit kommt zumindest die europäische Polizeibehörde Europol in einem Bericht über die Organisierte Kriminalität aus dem vergangenen Jahr.
    "Eine Unterwanderung des Gesundheitsmarktes durch organisierte Kriminalität bietet Möglichkeiten für kriminelle Aktivitäten wie unterschiedliche Betrugsstraftaten zum Nachteil von Patienten und Versicherungen. Dies verspricht hohe Gewinne, ein niedriges Entdeckungsrisiko und deutlich geringere Strafen als traditionelle Kriminalitätsfelder."