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Kriminalroman aus der Nazi-Zeit
Der St. Petersburger Sherlock Holmes

"Strogany und die Vermissten" heißt der Kriminalroman von Adam Kuckhoff und Edwin Tietjens, der während der Nazidiktatur in Deutschland veröffentlicht wurde. Die Autoren waren im Widerstand gegen das Regime aktiv und schmuggelten zahlreiche zeitkritische Passagen in den Text. 75 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wurde das Buch nun wiederentdeckt.

Von Ralph Gerstenberg | 11.05.2016
    Als "Strogany und die Vermissten" von Adam Kuckhoff und Peter Tarin 1941 erschien, war er nur einer von vielen Kriminalromanen, die in Nazideutschland das Unterhaltungsbedürfnis der Volksgemeinschaft befriedigen sollten. Erst im Nachhinein entdeckten Populärkulturforscher, dass in diesem Krimi mehr steckte als eine spannende Geschichte. Offenbar hatten sich die Autoren einen Ratschlag Bertolt Brechts aus dessen Aufsatz "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" von 1935 zueigen gemacht, der auf verschiedene Möglichkeiten verwies, unliebsame Wahrheiten in einer Diktatur zu verbreiten.
    "Das geschieht zum Beispiel, wenn man in der verachteten Form des Kriminalromans an unauffälligen Stellen Schilderungen übler Zustände einschmuggelt."
    Ein Trick, der funktionierte, aber auch einen Haken hatte. "Die verachtete Form des Kriminalromans" führte dazu, dass das Buch später unbeachtet blieb, meint Ansgar Warner, der "Strogany und die Vermissten" nun in seinem Verlag E-Book-News Press neu publiziert hat.
    "Der Kriminalroman war damals ein Schutz als ein populäres Genre, das man nicht so Satz für Satz auseinander genommen hat. Es war aber auch hinterher so, dass sich kaum jemand dafür interessiert hat. Das Werk von Adam Kuckhoff ist relativ gut erforscht, aber diesen Kriminalroman hat man dann eben auch links liegen lassen. Man ist offenbar von Anfang an davon ausgegangen: Der hat sowieso keinen literarischen Wert. Man hat immer das kolportiert, da wären versteckte antifaschistische Tendenzen, semantische Konterbande des deutschen Widerstandes, aber für viel mehr hat man sich nicht interessiert. Man hat sich ja nicht mal dafür interessiert, wer eigentlich hinter dem Pseudonym des Koautors steckte."
    Krimiprojekt mit subversivem Gedankengut
    Hinter dem Pseudonym Peter Tarin verbarg sich der 1894 in St. Petersburg geborene und seit den 1920er Jahren in Berlin lebende Psychiater und Werbepsychologe Edwin Tietjens. Tietjens, der bereits während der Weimarer Republik einen Sachbuch-Bestseller über Desuggestion veröffentlicht hatte, wandte sich an den etablierten Schriftsteller und Publizisten Adam Kuckhoff mit der Idee für einen Kriminalroman. Wie Tietjens war auch Kuckhoff in der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle” aktiv. Und so war sich das Autorenduo offenbar rasch einig, in ihr gemeinsames Krimiprojekt subversives Gedankengut einfließen zu lassen. Bereits zu Beginn des Kriminalromans "Strogany und die Vermissten" stolpert man über explizite Formulierungen.
    "Es war in St. Petersburg im Winter 1909/10, in der Zeit zwischen der Revolution und dem Ausbruch des Weltkriegs. Im Zarenreich herrschte Ruhe. Zwar gab es hin und wieder noch Attentate auf hohe Staatsbeamte und Mitglieder der kaiserlichen Familie, aber daran war man seit Jahrzehnten gewöhnt. Selbst die blutigste Sensation stumpft ab, wenn sie alltäglich wird. Und so erweckte das unerklärliche Verschwinden einer Anzahl von Mitgliedern der ersten Gesellschaftskreise in diesem Winter einen größeren Widerhall als jene Attentate.”
    "Das ist ja mit Absicht nicht nur historisch verlagert, sondern auch regional verlagert auf das Russland der Zarenzeit. Bei vielen Sachen wird man natürlich dann denken, wie hat der zeitgenössische Leser das dann übersetzt. Das Zarenreich ist das die Hitlerdiktatur? Die Polizei ist vielleicht auch die GeStaPo. Und die Frage ist natürlich auch: Wer sind die Vermissten, wer sind deren Mörder? Also wenn Menschen da verschwinden und irgendwo verscharrt werden und dann irgendwann doch wieder auftauchen, das hat natürlich schon so einen Beigeschmack, weil es ja auch bereits im Titel steht: Die Vermissten."
    Der adlige Amateurdetektiv Sergej Pawlowitsch Strogany, eine Art russischer Sherlock Holmes, wird von der Petersburger Polizei bei Ermittlungen in einer Serie von Vermisstenfällen hinzugezogen. Dabei lernt der im Handlungsverlauf mittellos werdende Aristokrat sein soziales Gewissen und die Elendsviertel der Vorstädte kennen, in zwielichtigen Kaschemmen taucht er ein in den Sumpf des Verbrechens, und mitten im verschneiten russischen Wald stößt er auf eine Terrorzelle samt Geheimbibliothek.
    "Das ist einer der besonders irren Momente, wo dann in dieser Waldhütte hinter der doppelten Wand plötzlich diese anarchistische Propagandaliteratur entdeckt wird und dann eben auch argumentiert wird von Strogany, warum diese Schriften jetzt gar nicht so schlimm wären. Und es geht auch um die Frage: Wie weit lässt sich der Staat noch reformieren und welche Mittel sind legitim, um die Gewalt, aber auch die soziale Ungerechtigkeit im Zarenreich zu beseitigen. Es finden sich ja auch dann so Formulierungen: "Das muss irgendwann zusammenbrechen, je schneller, desto besser."
    "Und – fürchten Sie sich nicht vor dieser Katastrophe, die Sie vielleicht auch in Mitleidenschaft zieht?", hatte Strogany aufblickend gefragt. Sie zuckte die Achseln. "Papa meint, dass es nicht so schlimm werden wird, wenn man rechtzeitig etwas tut. – Und fürchten?", hatte sie mit einem still strahlenden Lächeln gesagt. "Die Hauptsache ist doch, dass das Rechte geschieht. Papa, ja ... Aber wir? Wir sind doch jung und können noch vieles, vieles erleben und lernen – wovor sollten wir uns fürchten?"
    Autoren nutzten geschickt die Leerstellen des Unkonkreten
    Zwar gab es, vor allem nach Kriegsbeginn, immer wieder Versuche der Nationalsozialisten, den Kriminalroman zu instrumentalisieren, doch das Unterhaltungsbedürfnis der Menschen vertrug sich nicht mit politischer Indoktrination. So flatterten erstaunlich wenige Hakenkreuzfahnen durch die Spannungsliteratur des Dritten Reichs. Die Schauplätze waren häufig nicht besonders konkret: irgendwie großstädtisch, modern, bürgerlich. Auf allzu realistische Details wurde von Krimiautoren in jenen Jahren auch ganz bewusst verzichtet, um bei den Zensurinstanzen nicht unnötig anzuecken. In "Strogany und die Vermissten" nutzten Adam Kuckhoff und Peter Tarin geschickt die Leerstellen des Unkonkreten als Assoziationsraum für letztlich sehr konkrete Bilder, Ereignisse und Personen, erklärt Herausgeber Ansgar Warner.
    "Als es dann um einen weiteren Skandal geht, bei dem die Polizei sehr schlecht aussieht, soll Strogany dann vermitteln und wird zu einer Person geschickt, die immer nur in Anführungsstrichen und großgeschrieben als "Er" bezeichnet wird. "Er" empfängt ihn dann. Und man sieht dann an der Ausgestaltung der Szene, dass es sich dabei um den Zaren handelt, er wird aber nie namentlich genannt. So wie man ja wahrscheinlich auch den Führer nicht namentlich genannt hätte in einem Roman im Dritten Reich. Was dann so an Paraphernalia geschildert wird in diesem Kabinett des Zaren, der ganze Nippes auf dem Schreibtisch und diese Döschen und goldenen Wappen und so, da denkt man schon: Nanu, bin ich jetzt wirklich in St. Petersburg oder auf dem Obersalzberg oder in der Reichskanzlei?"
    "Strogany (...) staunte, gelinde entsetzt, über die Geschmacksbarbarei, die neben ein altes Kästchen mit wunderschönen Elfenbeinreliefs und Perlmuttereinlagen einen abscheulich geschnitzten Sammelrahmen für Photos in Fächerform stellte.
    "Er”, ein stattlicher Sechziger, das spärlich werdende Haar über dem vollblütigen Gesicht sorgfältig gescheitelt und angelegt, begrüßte Strogany auf das liebenswürdigste. "Nehmen Sie gefälligst Platz, mein Lieber. Lange nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen?"
    Einziger literarischer Erfolg von Tietjens und Kuckhoff
    Für Adam Kuckhoff sollte "Strogany und die Vermissten" von 1941 die letzte, für seinen Koautor Peter Tarin alias Edwin Tietjens sogar die einzige literarische Veröffentlichung bleiben. Kuckhoff wurde als einer der führenden Köpfe der antifaschistischen Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" im September 1942 verhaftet und ein knappes Jahr später in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Als weniger exponiertes Mitglied des Untergrundnetzwerkes entging Edwin Tietjens der Verhaftungswelle, starb jedoch 1944 im Alter von fünfzig Jahren an einem Herzinfarkt. Später wurde bekannt, dass er in seiner Berliner Wohnung jüdische Fabrikarbeiterinnen versteckt hatte, wofür ihm posthum der Titel "Gerechter unter den Völkern" verliehen wurde.
    Der gemeinsame Kriminalroman der beiden Antifaschisten ist nicht nur wegen seiner gut getarnten Kritik am NS-Staat interessant, sondern auch, weil die Spannungselemente darin genutzt wurden, um in Milieus einzutauchen und gesellschaftliche Zustände zu beschreiben. Die Hauptfigur hätte durchaus Serienpotenzial gehabt. Eine großartige Wiederentdeckung – wieder einmal von einem kleinen Verlag.
    "Strogany und die Vermissten" von Adam Kuckhoff und Peter Tarin ist in der "Edition Widergänger" bei E-Book-News Press erschienen. 328 Seiten kosten 12,90 €.