Friedbert Meurer: Nicht nur die Berliner sind alarmiert, viele Eltern sorgen sich bundesweit, wenn sie von Gewalt und Aggressivität an Schulen hören so wie jetzt an der Rütli-Hauptschule in Berlin-Neukölln. Darüber möchte ich reden mit Professor Christian Pfeiffer, dem Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover. Guten Morgen, Herr Pfeiffer!
Christian Pfeiffer: Guten Morgen, Herr Meurer!
Meurer: Wie brisant ist Ihrer Meinung nach insgesamt die Situation an deutschen Hauptschulen?
Pfeiffer: Sie ist zum Glück nicht ganz so brisant wie an dieser Schule. Aber richtig ist: Wenn wir vergleichen auf der Basis unserer Befragung, die wir gerade von 17.000 Neuntklässlern in Deutschland gemacht haben, dann haben wir mit Abstand die höchste Gewaltrate an den Hauptschulen. Ähnlich wie in Berlin ist ein zentraler Faktor, dass die Integration türkischer, jugoslawischer und anderer Jugendlicher ins Schulsystem weitgehend misslungen ist, dass die sich dann dort massieren an den Hauptschulen in den Städten und dass dadurch ein beachtliches Gewaltpotenzial entsteht. Trotzdem gilt jedoch: Wenn wir zurückschauen, 1997, da hatten wir den Höchststand der Gewalt an Schulen an Deutschland. Seitdem ist es insgesamt betrachtet besser geworden. Das wissen wir so sicher, weil schwere Vorfälle, wo jemand massiv verletzt wird, so dass ein Arzt gerufen werden muss, der dann gleichzeitig auch den Versicherungen mitgeteilt werden muss, rückläufig sind. Da haben wir pro 1000 Schüler seit '97 einen Rückgang um 27 Prozent solcher arztrelevanten Vorfälle. Wenn es noch schlimmer wird, Nasenbein gebrochen, Kniescheibe kaputt geschlagen und Ähnliches, dass das Krankenhaus eingeschaltet werden muss, dann ist der Rückgang sogar 37 Prozent - also insgesamt eine gute Botschaft und trotzdem Probleme.
Meurer: Die Zahlen für die Hauptschule? Geht da die Entwicklung nach oben, was die Gewalttaten betrifft?
Pfeiffer: Nein. Auch dort haben wir leicht sinkende Zahlen. Insgesamt gesehen ist die Situation deswegen nicht so dramatisch ausgefallen, wie viele glauben, weil wir auch einen Faktor haben, der Gewalt gedämpft hat, nämlich einen deutlichen Rückgang der innerfamiliären Gewalt, die immer wieder neue Gewalttäter entstehen lässt, und an vielen Schulen doch starke Bemühungen, der Gewalt entgegenzutreten, Konfliktlotsen auszubilden, die Polizei viel stärker reinzuholen, als man das früher getan hat. Bundesweit gibt es also eher einen positiven Trend, aber eben starke Probleme in Großstadthauptschulen, wo wir dann auch eine Flucht der deutschen Eltern beobachten. Und keine Illusionen: Der Senator in Berlin mag zwar noch versuchen, diese Schule aufrecht zu erhalten, aber die Eltern von Kindern, die nicht gewalttätig sind, die werden ihre Kinder dort nicht mehr hinschicken.
Meurer: Wie lautet Ihr Vorschlag? Wäre es zu überlegen, die Hauptschule aufzulösen?
Pfeiffer: Im Prinzip ist das ein richtiger Vorschlag. Die Hauptschule ist immer mehr zu einer Verliererschule verkommen. Vor allem in Norddeutschland ist das noch stärker als in Süddeutschland der Fall. Das heißt, Kinder von Hauptschulen haben von vornherein sehr schlechte Chancen, einen Lehrplatz zu finden, später in die Arbeit hineinzuwachsen. Wenn man das ändern will, sollte man dem Rechnung tragen, dass das eine Restschule geworden ist, wieder im Norden stärker als im Süden, und dass von daher diese Zusammenlegung mit der Realschule schon bessere Perspektiven eröffnet.
Meurer: Aber wird damit der soziale Hintergrund und die Integration verbessert, mit der Zusammenlegung?
Pfeiffer: Nein, natürlich nicht. Hier muss mehr geschehen. Man muss offensiv einfach das Problem angehen, dass es hier ein Problem von Machokultur gibt, auch von familiären Hintergründen, wo Gewalt in der Familie noch sehr oft praktiziert wird. Man muss dieses Tabu, dass darüber nicht geredet wird, durchbrechen und offen ansprechen, dass wir zum Beispiel bei türkischen Jugendlichen ein massives innerfamiliäres Gewaltproblem haben, dass dort die Machokultur blüht wie in keiner anderen ethnischen Gruppe, wie wir leider gerade wieder bei unserer Befragung feststellen müssen. Ich habe gerade ein Elf-Thesen-Papier geschrieben, was man tun muss, um die Integration dieser Jugendlichen voranzutreiben. Das fängt beim Kindergarten an, denn wir wissen: Wenn der Mehmet mit Max und Moritz aufwächst im Kindergarten und dann ganz andere Bezüge bekommt, wenn er von denen zum Geburtstag eingeladen wird, wenn dort die Sprache bestens gelernt wird in solchen Kindergärten, dann ist Mehmet auf einem guten Kurs und wird später zu 30 Prozent im Gymnasium landen.
Meurer: Da wird mancher sagen, Mehmet würde vielleicht Max und Moritz dann verhauen haben?
Pfeiffer: Nein! Dann wissen wir: Wir haben es ja, dass dort, wo die Geburtstagseinladungen von türkischen Kindern hoch sind, weil von Vornherein durch Kindergartenkultur es geschärft wurde. In Oldenburg beispielsweise haben wir die niedrigste Kinderkriminalität von türkischen Kindern, die wir irgendwo gemessen haben, und sie ist nicht höher als die der Deutschen. Nein, nein, es funktioniert dann. "Melting pot Kindergarten" ist die Alternative. Das ist nur in einer Stadt wie Berlin, in Neukölln oder in Kreuzberg schwer zu realisieren, weil dort natürlich ohnehin schon ein sehr hoher Bevölkerungsanteil von Türken besteht, und trotzdem – in Kanada macht man es so – mit großem Erfolg. Das ist nur ein Beispiel und man muss das Thema Machokultur sehr frühzeitig mit Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen im Unterricht diskutieren und ihnen klar machen, was das für ein Irrweg ist zu glauben, dass das allerwichtigste ist, immer kampfbereit dazustehen. Und noch ein Letztes: Es ist doch absurd, wenn wir uns das Leben von türkischen Hauptschülern anschauen. Die bringen es auf fünf bis sechs Stunden Medienkonsum, und zwar primär Gewaltvideos, Gewaltfilme, die sie richtig nach oben treiben in ihrer Gewaltbereitschaft. Die Wirklichkeit ist krank, die die in ihrem Alltag erleben, und das zu ändern ist nicht von heute auf morgen geschehen durch eine Schulorganisation. Beides muss gleichzeitig geschehen.
Meurer: Was halten Sie davon, mehr Lehrer, mehr türkische und arabische Lehrer einzustellen?
Pfeiffer: Das mag eine Hilfe sein, weil die die Mentalität verstehen, weil die eine hohe Akzeptanz haben. Das ist auch ein Beitrag und eine Kultur der Anerkennung für diejenigen, die es positiv schaffen. Wir müssen denen auch Vorbilder vor Augen führen. Als ich Justizminister war, habe ich einmal ganz gezielt mit großem Pressetamtam eine Türkin, eine exzellente Juristin, die bei uns beide Examina wunderbar absolviert hat und inzwischen deutscher Nationalität war, zu einer Richterin ernannt, und das türkische Fernsehen hat eine Biografie über sie gebracht, und die türkischen Zeitungen haben über sie geschrieben. Solche Vorbilder müssen wir stark machen, damit sie sehen: Einer von uns kann es auch schaffen, wenn er sich richtig auf den Hosenboden setzt.
Meurer: Das war Professor Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover und auch ehemaliger Justizminister in Niedersachsen. Herr Pfeiffer, herzlichen Dank und auf Wiederhören.
Pfeiffer: Danke Ihnen.
Christian Pfeiffer: Guten Morgen, Herr Meurer!
Meurer: Wie brisant ist Ihrer Meinung nach insgesamt die Situation an deutschen Hauptschulen?
Pfeiffer: Sie ist zum Glück nicht ganz so brisant wie an dieser Schule. Aber richtig ist: Wenn wir vergleichen auf der Basis unserer Befragung, die wir gerade von 17.000 Neuntklässlern in Deutschland gemacht haben, dann haben wir mit Abstand die höchste Gewaltrate an den Hauptschulen. Ähnlich wie in Berlin ist ein zentraler Faktor, dass die Integration türkischer, jugoslawischer und anderer Jugendlicher ins Schulsystem weitgehend misslungen ist, dass die sich dann dort massieren an den Hauptschulen in den Städten und dass dadurch ein beachtliches Gewaltpotenzial entsteht. Trotzdem gilt jedoch: Wenn wir zurückschauen, 1997, da hatten wir den Höchststand der Gewalt an Schulen an Deutschland. Seitdem ist es insgesamt betrachtet besser geworden. Das wissen wir so sicher, weil schwere Vorfälle, wo jemand massiv verletzt wird, so dass ein Arzt gerufen werden muss, der dann gleichzeitig auch den Versicherungen mitgeteilt werden muss, rückläufig sind. Da haben wir pro 1000 Schüler seit '97 einen Rückgang um 27 Prozent solcher arztrelevanten Vorfälle. Wenn es noch schlimmer wird, Nasenbein gebrochen, Kniescheibe kaputt geschlagen und Ähnliches, dass das Krankenhaus eingeschaltet werden muss, dann ist der Rückgang sogar 37 Prozent - also insgesamt eine gute Botschaft und trotzdem Probleme.
Meurer: Die Zahlen für die Hauptschule? Geht da die Entwicklung nach oben, was die Gewalttaten betrifft?
Pfeiffer: Nein. Auch dort haben wir leicht sinkende Zahlen. Insgesamt gesehen ist die Situation deswegen nicht so dramatisch ausgefallen, wie viele glauben, weil wir auch einen Faktor haben, der Gewalt gedämpft hat, nämlich einen deutlichen Rückgang der innerfamiliären Gewalt, die immer wieder neue Gewalttäter entstehen lässt, und an vielen Schulen doch starke Bemühungen, der Gewalt entgegenzutreten, Konfliktlotsen auszubilden, die Polizei viel stärker reinzuholen, als man das früher getan hat. Bundesweit gibt es also eher einen positiven Trend, aber eben starke Probleme in Großstadthauptschulen, wo wir dann auch eine Flucht der deutschen Eltern beobachten. Und keine Illusionen: Der Senator in Berlin mag zwar noch versuchen, diese Schule aufrecht zu erhalten, aber die Eltern von Kindern, die nicht gewalttätig sind, die werden ihre Kinder dort nicht mehr hinschicken.
Meurer: Wie lautet Ihr Vorschlag? Wäre es zu überlegen, die Hauptschule aufzulösen?
Pfeiffer: Im Prinzip ist das ein richtiger Vorschlag. Die Hauptschule ist immer mehr zu einer Verliererschule verkommen. Vor allem in Norddeutschland ist das noch stärker als in Süddeutschland der Fall. Das heißt, Kinder von Hauptschulen haben von vornherein sehr schlechte Chancen, einen Lehrplatz zu finden, später in die Arbeit hineinzuwachsen. Wenn man das ändern will, sollte man dem Rechnung tragen, dass das eine Restschule geworden ist, wieder im Norden stärker als im Süden, und dass von daher diese Zusammenlegung mit der Realschule schon bessere Perspektiven eröffnet.
Meurer: Aber wird damit der soziale Hintergrund und die Integration verbessert, mit der Zusammenlegung?
Pfeiffer: Nein, natürlich nicht. Hier muss mehr geschehen. Man muss offensiv einfach das Problem angehen, dass es hier ein Problem von Machokultur gibt, auch von familiären Hintergründen, wo Gewalt in der Familie noch sehr oft praktiziert wird. Man muss dieses Tabu, dass darüber nicht geredet wird, durchbrechen und offen ansprechen, dass wir zum Beispiel bei türkischen Jugendlichen ein massives innerfamiliäres Gewaltproblem haben, dass dort die Machokultur blüht wie in keiner anderen ethnischen Gruppe, wie wir leider gerade wieder bei unserer Befragung feststellen müssen. Ich habe gerade ein Elf-Thesen-Papier geschrieben, was man tun muss, um die Integration dieser Jugendlichen voranzutreiben. Das fängt beim Kindergarten an, denn wir wissen: Wenn der Mehmet mit Max und Moritz aufwächst im Kindergarten und dann ganz andere Bezüge bekommt, wenn er von denen zum Geburtstag eingeladen wird, wenn dort die Sprache bestens gelernt wird in solchen Kindergärten, dann ist Mehmet auf einem guten Kurs und wird später zu 30 Prozent im Gymnasium landen.
Meurer: Da wird mancher sagen, Mehmet würde vielleicht Max und Moritz dann verhauen haben?
Pfeiffer: Nein! Dann wissen wir: Wir haben es ja, dass dort, wo die Geburtstagseinladungen von türkischen Kindern hoch sind, weil von Vornherein durch Kindergartenkultur es geschärft wurde. In Oldenburg beispielsweise haben wir die niedrigste Kinderkriminalität von türkischen Kindern, die wir irgendwo gemessen haben, und sie ist nicht höher als die der Deutschen. Nein, nein, es funktioniert dann. "Melting pot Kindergarten" ist die Alternative. Das ist nur in einer Stadt wie Berlin, in Neukölln oder in Kreuzberg schwer zu realisieren, weil dort natürlich ohnehin schon ein sehr hoher Bevölkerungsanteil von Türken besteht, und trotzdem – in Kanada macht man es so – mit großem Erfolg. Das ist nur ein Beispiel und man muss das Thema Machokultur sehr frühzeitig mit Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen im Unterricht diskutieren und ihnen klar machen, was das für ein Irrweg ist zu glauben, dass das allerwichtigste ist, immer kampfbereit dazustehen. Und noch ein Letztes: Es ist doch absurd, wenn wir uns das Leben von türkischen Hauptschülern anschauen. Die bringen es auf fünf bis sechs Stunden Medienkonsum, und zwar primär Gewaltvideos, Gewaltfilme, die sie richtig nach oben treiben in ihrer Gewaltbereitschaft. Die Wirklichkeit ist krank, die die in ihrem Alltag erleben, und das zu ändern ist nicht von heute auf morgen geschehen durch eine Schulorganisation. Beides muss gleichzeitig geschehen.
Meurer: Was halten Sie davon, mehr Lehrer, mehr türkische und arabische Lehrer einzustellen?
Pfeiffer: Das mag eine Hilfe sein, weil die die Mentalität verstehen, weil die eine hohe Akzeptanz haben. Das ist auch ein Beitrag und eine Kultur der Anerkennung für diejenigen, die es positiv schaffen. Wir müssen denen auch Vorbilder vor Augen führen. Als ich Justizminister war, habe ich einmal ganz gezielt mit großem Pressetamtam eine Türkin, eine exzellente Juristin, die bei uns beide Examina wunderbar absolviert hat und inzwischen deutscher Nationalität war, zu einer Richterin ernannt, und das türkische Fernsehen hat eine Biografie über sie gebracht, und die türkischen Zeitungen haben über sie geschrieben. Solche Vorbilder müssen wir stark machen, damit sie sehen: Einer von uns kann es auch schaffen, wenn er sich richtig auf den Hosenboden setzt.
Meurer: Das war Professor Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover und auch ehemaliger Justizminister in Niedersachsen. Herr Pfeiffer, herzlichen Dank und auf Wiederhören.
Pfeiffer: Danke Ihnen.