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Kritischer Klassiker als Volksvollzug

Mit dem Chor hat Regisseur Volker Lösch eine fast vergessene Spezialität des Theaters wiederentdeckt. In der Antike war der Chor vor allem für die politischen Kommentare zur eigentlichen Bühnenhandlung zuständig. Heute ist er zuweilen auch für Skandale gut. Löschs Inszenierung der "Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats", mit der Peter Weiss vor 40 Jahren ein aufsehenerregendes Revolutionsstück schreib, wäre es fast so ergangen.

Von Michael Laages |
    Den langen Originaltitel jedenfalls darf die Inszenierung nach dem "Marat/Sade"-Stück von Peter Weiss seit der Generalprobe am Donnerstag nicht mehr tragen - der Verlag, der die Rechte der Erben von Peter Weiss vertritt, intervenierte: zu wenig Weiss, zu viel Lösch. Der hatte dem aktualisierten Weiss-Text ein Schrecken und Mitleid erregendes Sortiment aus Fall- und Elendsgeschichten von zwei Dutzend Hamburger Hartz IV-Empfängern voran gestellt.

    Wer bisher noch nicht wusste, wie viel innere und äußere Armut es wieder gibt in Deutschland, wer sich immer noch taub stellte gegenüber diesem alltäglichen Skandal in diesem immer noch so reichen Land, der bekommt den zu Beginn in Hamburg eine Viertelstunde lang um die Ohren gehauen: vom Chor der Opfer.

    Und zum Finale, nachdem Lösch und das Team plakativ und polemisch, aber letztlich ziemlich schlüssig das Irrenhaus zu Charenton und die Schauspieltruppe dortselbst unter Anleitung des Marquis de Sade "übersetzt" haben in das Hartz IV-Gefängnis von heute, tritt der Chor des Hamburger Elends noch einmal an - und verliest unter anderem eine Statistik über das obszöne Ausmaß von privatem Reichtum in Hamburg, die im "Manager Magazin" nachlesbar war.

    Einige der Privatpersonen, die in dieser Statistik vorkommen (und sich durch die Veröffentlichung im durchaus wenig revolutionären Wirtschaftsblatt vermutlich eher geehrt fühlten) wollten sich nun auf der Bühne nicht erwähnt wissen und brachten am Tag vor der Premiere Anwälte mit der Drohung der einstweiligen Verfügung in Stellung. Der Chor verweist in diesen Fällen nun einfach im Bühnentext auf die Statistik im Magazin: Und nachlesen kann nun jeder selber, wem da theater-öffentlicher Reichtum peinlich war.

    Ein kleiner Skandal - angesichts des eigentlichen Skandals dieser Gesellschaft: Dem nicht etwa schrumpfenden, sondern immer noch steiler werdenden Gefälle zwischen Arm und Reich in Deutschland, der "Gerechtigkeitslücke". Spätestens seit dem Siegerlächeln des Deutschbänkers Josef Ackermann vor Gericht hat der Skandal ein Gesicht. Löschs Weiss-Bearbeitung allerdings setzt auf die (vorerst noch irrige) These, dass dieses Zerfallen der Gesellschaft einen quasi vor-revolutionären Prozess in Gang setzen könne.
    Ein Blick in Gegenden der Welt mit noch fundamentaler zerfallenden Gesellschaften - sagen wir mal nach Brasilien oder Indien - sollte ihn vielleicht nicht eines Besseren, aber zumindest anderen belehren. Denn so zynisch das klingen mag und wie schwer die Erkenntnis auch fällt - gegenüber den Slums von Mumbai oder den Favelas in Sao Paulo leiden Hartz IV-Empfänger hierzulande auf hohem Niveau. Denn uns gehts ja noch Gold.

    Soviel zur Theorie. In der Praxis geht Löschs Chor-Beschwörung auch diesmal wieder mächtig an die Nieren, oder ans Herz. Bei denen, die noch eins haben. Und das Weiss-Stück, in den 60er Jahren ja durchaus als Kommentar zur Revolte jener Zeit konzipiert, hält die rabiate Umdeutung durchaus auch aus - das Irrenhaus ist heute eine Gummizelle aus Einkaufstüten im Mix-Design aus Aldi und Lidl, und der Direktor erklärt mal schnell die Welt, wenn seine Irren sich beklagen.

    Während die de-Sade-Darstellerin Marion Breckwoldt ziemlich eklig "Fettabsaugen an Bauch und Schenkeln" mimt, durchläuft Achim Buch als Volkstribun Marat diverse historische Inkarnationen: schwebt als ulkig revolutionär posierendes Lenin-Denkmal vom Bühnenhimmel, verteilt als Hippie zur "Hair"-Musik lauter immer gleich bunte Ringelpullis ans verzückte Volk, tanzt Salsa als Fidel und poltert schließlich durchs Publikum als Populist Oskar von Linkspartei - auf den ja, wie auf Marat, ein, wenn auch nicht tödliches, Attentat verübt wurde. Die Parallele mag geschmackvoll finden, wer will. In so viel Maskenspiel und Mummenschanz allerdings geht der Kerndisput des Weiss-Stückes fast unter.

    Und für den klugen Weiss-Diskurs über Kunst und Wirklichkeit auch jenseits der Revolution bleibt natürlich erst recht kein Platz - wie für die Obsessionen der historischen Marat-Attentärin Charlotte Corday. Lösch setzt auf Agitation pur, er forciert Neiddebatte wie Politikerhass. Und sein kollektives "Volk" ist natürlich auch der strafende, mordende Pöbel.

    Es gehört zum Elend vieler Revolutionen, dass deren schnelles Ende schon angelegt war im Hass dieser Rächer. Diese Erkenntnis der Nachgeborenen interessiert an diesem Abend nicht - lieber setzt sich das Hamburger Schauspielhaus keck ein Jakobiner-Mützchen auf. Die Eintrittspreise aber wird es deshalb nicht gleich ändern.