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"Kultur ist halt irgendwie überall"

Der Publizist Michael Rutschky hat den Kulturteil des neuen SPD-Grundsatzprogrammes beanstandet. Auf der "Dreiviertelseite", die sich mit der Kultur beschäftige, werde ein zu allgemeiner Kulturbegriff benutzt. Demnach sei Kultur "irgendwie etwas Gutes" und deshalb müsse man sie fördern.

Moderation: Doris Schäfer-Noske |
    Doris Schäfer-Noske: Linksruck oder nicht. Über diese Frage wurde nach dem SPD-Parteitag in Hamburg heute viel diskutiert. Dort hat die Partei am Wochenende ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das die bisherigen Grundsätze aus dem Jahr 1989 ablösen soll. In diesem neuen Programm bekennt sich die SPD zu traditionellen Werten, zu einer Weiterentwicklung des Sozialstaates und zu einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik. Außerdem halten die Sozialdemokraten am Ziel eines demokratischen Sozialismus fest. Auch die Kultur kommt im Grundsatzprogramm natürlich vor. Michael Rutschky hat das Programm mit speziellen Augenmerk auf die Passagen zur Kultur gelesen, und ich habe ihn gefragt, welchen Raum denn die Kultur im SPD-Grundsatzprogramm einnimmt.

    Michael Rutschky: Es sind vier Abschnitte, und die sind recht knapp. Insgesamt sind es, glaube ich, 36, 37 Seiten. Es ist eine Dreiviertelseite, würde ich mal sagen.

    Schäfer-Noske: Was sind denn die Kernpunkte?

    Rutschky: Das ist schon übertrieben, dass es Kernpunkte gibt. Sie haben sich angeschlossen diesem seit ungefähr 20 Jahren sich ausbreitenden allgemeinen Kulturbegriff. Also vor 20, 30 Jahren hätte man gesagt, Kultur ist Oper, Ölmalerei, Bleistiftzeichnung, Bild, Belletristik, und heute ist irgendwie alles Kultur. Und das ist ja der Kulturbegriff, sagen wir mal, der Sozialwissenschaften. Also das Tier hat Natur, und der Mensch ist ungesichert in seinem Verhalten, und deshalb braucht er Kultur, und deshalb ist Kultur auch irgendwie was Gutes. Und auf diesem Standpunkt steht auch die SPD. Aus diesem Grunde ist die Kultur irgendwie was Gutes und irgendwie überall, und deshalb muss man sie fördern und so weiter und so fort.

    Schäfer-Noske: In wie weit unterscheidet sich das denn vom früheren Kulturbegriff der Partei?

    Rutschky: Das kann ich Ihnen, ehrlich gesagt, nicht genau sagen. Sie fangen aber an mit dem Hinweis auf die SPD als Kulturbewegung, und das ist ein Hinweis auf die berühmten Arbeiterbildungsvereine, aus denen die SPD im 19. Jahrhundert hervorgegangen ist. Und da war Kultur natürlich die bürgerliche Kultur, an der das Proletariat nicht teilhatte. Kultur ist halt irgendwie überall, und deshalb ist es da schwer, eine Unterscheidung zu treffen, was natürlich auch die Schwäche dieses Programmpunktes ausmacht. Ich habe Ihnen mal ein kleines Büchlein von 2001 mitgebracht. Da hat der böse Eckhard Henscheid alle 756 Kulturen aufgelistet. Und da gibt es also die Intellektuellenkultur, die Interfacekultur, die Kaffeekultur, die Kanzlerkultur, die katholische Kultur, die Kioskkultur und so weiter und so weiter. Und das ist der gegenwärtig herrschende Kulturbegriff, den die SPD halt auch adaptiert. Es gibt ein Kriterium offensichtlich, aber das ist implizit. Das geht gegen die CDU-Konzeption von der Leitkultur. Also dem gegenüber propagiert die SPD mit einem Begriff von Axel Honneth, das ist ein Schüler von Jürgen Habermas, eine Kultur der Anerkennung.

    Schäfer-Noske: Also Toleranz?

    Rutschky: Ja, schon mehr als Toleranz. Toleranz kann ja gleichgültig sein. Es gibt diesen berühmten Begriff der resignativen Toleranz, die in unseren Großstädten herrscht. Wir gucken einfach nicht hin, wenn uns bestimmte Sachen nicht gefallen. Anerkennung ist ja ein bisschen mehr. Anerkennung heißt ja, dass wir das toll finden, wenn arabische Frauen, muslimische Frauen Kopftücher tragen, wenn Moscheen gebaut werden. Das erfordert ja ein bisschen mehr als Toleranz. Und auf diesem Standpunkt stellt sich die SPD, und darüber kann man streiten. Ich meine, das Problem beim Begriff der Leitkultur ist halt die alte Schwierigkeit, wenn man Einheit predigt, dann sät man Zwietracht.

    Schäfer-Noske: Es ist aber auch so, dass in einem anderen Abschnitt, da wird ja auch auf die Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition verwiesen, in Humanismus und Aufklärung. Und da heißt es, nur eine ebenso wertefundierte wie tolerante Kultur kann sich gegen den Versuch behaupten, Kultur und Religion als Mittel der Ausgrenzung zu missbrauchen. Das klingt doch schon fast wie die Leitkultur der CDU?

    Rutschky: Das Problem, denke ich, bei solchen Programmtexten, es wäre eigentlich interessanter, die Prozesse zu beobachten, in denen solche Formulierungen zustande kommen. Wenn wir uns hier als Hermeneutiker darüber beugen und herauszufinden versuchen, ob das nicht wohlmöglich dasselbe ist wie die CDU, dann treten ja gleich wieder Leute auf, die sagen, nein, nein, nein, da gibt ganz, ganz feine Unterschiede, und die muss man herausarbeiten, und das ist der genuine SPD-Standpunkt. Das Problem ist natürlich, dass in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen, also jetzt hier der Kampf der Kulturen, geht es ja eigentlich darum, dass es andere Kulturen gibt, die unserer Kultur nicht mit Anerkennung begegnen, sondern die das alles als dekadent, zersetzend, unwertig ablehnen. Elemente dieser Feindseeligkeit sind natürlich auch in der deutschen Nation vorhanden. Also die Grünen und die Katholische Kirche um Herrn Meisner herum, die anerkennen sich keineswegs, sondern die bekämpfen sich. Und das ist ja das Problem dieses umfassenden Kulturbegriffs, dass er eben die Feindseeligkeit zwischen Kulturen nicht so richtig bekennt, sondern so tut, als sei Kultur insgesamt etwas Friedenstiftendes und Wertvolles und Gutes. Und wir wissen doch eigentlich aus der Geschichte, dass gerade kulturelle Differenzen sich wunderbar zur Begründung von Kriegen eignen.