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Kulturanalyse

Von einer Disziplin zu anderen wandern die Begriffe, wenn man die Analyse von Kultur so betreibt wie die niederländische Kulturtheoretikerin Mieke Bal. Was vor allem damit zu tun hat, dass sie sich nicht auf Systeme kapriziert, keine allgemeinen Theorien entwirft, keine Welterklärungsmodelle, sondern sich um Konkretes kümmert, um Details, um diskrete Perspektiven und genaue Verhältnisse. Sie setzt einfacher und doch nicht weniger anspruchsvoll an, wenn sie Kulturanalyse als "eine Tätigkeit der eingehenden Beschäftigung mit kulturellen Objekten" bestimmt. Der Akzent liegt auf Tätigkeit. In ihr werden die Grenzen der Disziplinen durchkreuzt von den wandernden Begriffen, hier werden sie beständig geschärft, Ballast abgeworfen, neue Details gesichtet. Das birgt, nicht zuletzt für den akademischen Betrieb, Gefahren in sich. In Zeiten knapper Kassen wird Interdisziplinarität schnell zum Feigenblatt für die Fusion oder Abschaffung von Fachbereichen. Kulturanalyse jedoch, wie Mieke Bal sie versteht, baut gerade auf die Vielfalt spezialisierter Fundamente des Wissens. Indem die Begriffe wandern, begründen und entwickeln sie eine Geschichte, die auch als kultureller Prozeß begriffen werden kann. In ihm wird die Balance geregelt, die unsere Aufmerksamkeit für die Kulturanalyse in der Gegenwart benötigt.

Guido Graf |
    Insbesondere geht es Mieke Bal um Narratologie, so auch der Titel eines ihrer wichtigsten Bücher von 1985. Die Wissenschaft vom Erzählen befasst sich für sie nicht zwingend mit einer bestimmten Gattung, sondern mit einer "kulturellen Kraft". Als Literaturtheoretikerin hat natürlich auch Mieke Bal nicht geringen Anteil an der exegetischen Ornamentik, mit der die wissenschaftliche Spezialisierung des begrifflichen Instrumentariums bisweilen betrieben wird. Die Auswahl aus den Schriften Mieke Bals, die Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef für diese erste umfangreichere deutsche Buchausgabe getroffen haben, hebt sich von diesem Unwesen wohltuend ab. Wie unangenehm die Rede von fokalisierenden und fokalisierten Figuren werden kann, wird gleichwohl auch hier deutlich, wenn Argumente auf die politisch-feministische Spitze getrieben werden und dabei so tun, als würden sie auch wissenschaftlich etwas entscheiden - und nicht nur behaupten. Dass sie diese Funktion als Rüstzeug immer auch noch haben, läßt die Begriffe Mieke Bals nicht immer so wandern, wie es als durchaus zukunftweisend proklamiert wird. Die sehr wörtlich orientierte Übersetzung von Joachim Schulte holpert da manchmal, obwohl Mieke Bal keineswegs so mit sprachlichen Oberflächenreizen spielt, wie es Derrida-epigonal und selbstbezüglich in vielen kulturwissenschaftlichen Publikationen eine Zeit lang Mode war.

    Stattdessen richtet Mieke Bal ihre Aufmerksamkeit darauf, was mit den Begriffen geschieht, welche Wege sie zurücklegen, welche Verwandlungen sie dabei durchlaufen, was die Spuren erzählen, die sie hinterlassen und die zu denen führen, die sie verwenden. "Begriffe sind Werkzeuge der Intersubjektivität", erklärt Mieke Bal. Wenn wir verstehen wollen, was Kultur ist, was Kultur macht, wie sie entsteht und sich entwickelt, lohnt es sich zu beobachten, was die Begriffe erzählen, mit der kulturelle Prozesse sich beschreiben. Wie weit so ein Konzept tragen soll, wird deutlich, wenn man Mieke Bals narratologischer Analsys des Audrucks "Vergewaltigung" folgt. Für Mieke Bal ist hier ein "Beispiel für die Metaphorisierung der Grammatik" zu entdecken. Hinter dem Substantiv "Vergewaltigung" steht für sie eine ganze Erzählung: "Die ersetzte, verdrängte und vernebelte Sache ist eine Geschichte mit mehreren Akteuren, einer Vielfalt von Interpretationen und einem Unterschied im Erleben." Das ist eigentlich, demonstriert an einem schrecklichen Gegenstand, banal. Mieke Bal kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, dass der Bedeutungskomplex hinter dem Begriff "Vergewaltigung" erst klar wird, wenn man ihn als Metapher sieht. Ihr geht es nicht darum, ob "Vergewaltigung" in einer Kultur akzeptabel ist oder nicht. Ihre Frage lautet: "Welche Subjekte werden von einem solchen Ausdruck unsichtbar gemacht? Welche Diskurse werden von diesen Subjekten heraufbeschworen, sobald wir sie durch Analyse sichtbar machen?"

    Diese Frage leitet Mieke Bal durch ihre gesamte Forschung, wie sie von den vorliegenden Aufsätzen repräsentiert wird. Einen Gang durch das naturhistorische Museum in New York formt sie zu einem Lehrstück in Sachen Postkolonialismus - "Menschliche Körper werden als Muster ethnischer Einheiten vorgeführt." Die Geschichte, die von den Exponaten und ihren zugehörigen Beschriftungen erzählt wird, liegt buchstäblich zwischen den Zeilen. Mieke Bal zeigt, wie - koloniale - Geschichte von der Naturgeschichte ausgeschlossen wird, wie das ausgestellte Wissen sich der Fiktion bedient und als Wahrheit geglaubt wird. Hier demonstriert Mieke Bal ihre Interpretationskunst schön und einleuchtend. Ihre Untersuchung zu Proust als Vorläufer der heutigen Gender-Debatten dagegen schwadroniert allzu häufig und nimmt vieles, wie beispielsweise Ina Hartwigs Studie zur "Sexuellen Poetik" bei Proust und anderen, gar nicht erst zur Kenntnis.

    Eindrucksvoller sind die Aufsätze, die sich mit Gegenwartskunst befassen. Hier gelingen Mieke Bal spannende Aktualisierungen der altehrwürdigen Rezeptionstheorie, insbesondere im Zusammenhang mit Künstlerinnen wie Kathleen Gilje oder Louise Bourgeois, die sich in ihren Werken jeweils mit Künstlern des Barock eingelassen habe und deren sexualisierenden und philosophischen Subjektivierungen Mieke Bal en detail herausarbeitet. Begriffe der Psychoanalyse, Konzepte, Beschreibungen: in Mieke Bals Kulturanalyse wandert alles ineinander - und immer weiter. Wir, als die Betrachter, Hörer und Leser auf diesem Weg, hinterlassen und verkörpern immer wieder Leerstellen, die wiederum von den Nachfolgenden ausgefüllt werden. Und so weiter.