
Gerhard Ludwig Müller ist für viele vatikanische Beobachter der Gegenpapst. Der Präfekt der Glaubenskongregation hütet die makellose Lehre, während Franziskus eine verbeulte Kirche herbeisehnt. Müller sprach von einer Hetzkampagne gegen den Limburger Bischof, der Papst bedankte sich bei Journalisten für ihre Recherchen. Der eine rechts, der andere links - das wäre aber dann doch zu einfach: Gerhard Ludwig Müller war Professor für Dogmatik, bevor er zunächst zum Bischof von Regensburg und dann zu kurialen Ehren aufstieg.
Schon lange ist er ein Freund des Befreiungstheologen Gustavo Gutierrez, er liebt Lateinamerika, regelmäßig zieht es ihn für einige Wochen nach Peru. Aber wenn er nun ein Buch namens "Armut" veröffentlicht, dann hat er sich Franziskus' Herzensthema gegriffen. Und den Papst gleich mit, denn der hat Müllers Werk ein Geleitwort mit auf den Weg gegeben. Franziskus schreibt:
"Wenn der Mensch gelernt hat, die fundamentale Solidarität zu üben, die ihn mit allen anderen Menschen verbindet, dann weiß er, dass er die Güter, über die er verfügt, nicht für sich behalten kann."
Umverteilung heißt so etwas im politischen Alltag. Gerhard Ludwig Müller meidet in seinem Part des Buches jede politische Konkretion. Er hat sich mehrere Gastautoren als Verstärkung geholt, darunter Gutiérrez selbst, doch auch der kümmert sich in seinen Beiträgen mehr um die Kirche als um die Politik. Müller, ganz Dogmatiker, zurrt vor allem den rechten Glauben fest:
"Ich rede nicht abstrakt und theoretisch über die Befreiungstheologie oder gar ideologisch, um mich in einem progressiven kirchlichen Lager als Gesinnungsgenosse zu empfehlen. Ebenso wenig habe ich Angst, dass dies als Verdacht auf mangelnde Orthodoxie ausgelegt werden könnte. Wie immer man es auch wendet, die Theologie von Gustavo Gutiérrez ist orthodox, weil sie orthopraktisch ist, und sie lehrt uns das gebotene christliche Handeln, weil sie aus dem rechten Glauben kommt."
Das klingt weder nach lateinamerikanischer Lässigkeit noch nach Leidenschaft. Aber eine gezielte Entspannungsübung ist das Buch immerhin. In theologischen Abhandlungen fällt an solchen Stellen das Wort "verdienstvoll". Anders als andere Konservative im Vatikan unterstellt Müller der Befreiungstheologie nicht generell, ihr Gott heiße Marx. Es gibt auch eine katholisch genehme Spielart, stellt er mit etwas umständlichen Wendungen klar:
"Jede Konzeption einer Theologie der Befreiung bleibt immer dann katholisch, wenn ihre Gesamthermeneutik die heilsgeschichtliche reale Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus ist, die der Kirche mit dem Glaubenssinn aller Gläubigen und ihrem Lehramt der Bischöfe und des Papstes zur treuen Auslegung übertragen ist."
Bis heute ist das Verhältnis zwischen Glaubenskongregation und Befreiungstheologie, gelinde gesagt, angespannt. Die Befreiungstheologie entstand in den 1960er-Jahren in lateinamerikanischen Basisgemeinden, wo mittellose Campesinos in der Bibel nach praktischen Wegen aus ihrem Elend suchten. Jesus erstand als Sozial-Revoluzzer wieder auf. Diese Kirche der Armen war etwas anderes als eine Kirche für die Armen. Die Kirche der Armen wollte die Ursachen der ungerechten Lebensbedingungen bekämpfen und nicht nur die Folgen mildern. Die Glaubenskongregation sah in der Befreiungstheologie einen "Marxismus in christlicher Tarnung", sie verbot wichtige Schriften und entzog etwa den Ideengebern Leonardo Boff und Ernesto Cardenal die Lehrerlaubnis.
"Befreiungstheologie ist Theologie im strengen Sinn"
Müller vollbringt das Kunststück, fast 100 Seiten über Befreiungstheologie zu schreiben, ohne die Namen der Verstoßenen zu erwähnen. Immerhin fragt er sich, ob die harte Entscheidung seines Vorgängers Joseph Ratzinger wider die Befreiungstheologen angemessen war. Erwartungsgemäß lobt er Ratzingers Weitsicht. Etwas weniger katholisch verdruckst bedeutet das zugleich: Müller gibt seinen Segen für eine Relecture der gesamten Befreiungstheologie, auch wenn er explizit nur Lobbyarbeit für seinen Freund Gustavo Gutiérrez betreibt. Der sei niemals der Versuchung erlegen, Theologie als "drapierte Soziologie" zu verstehen:
"Befreiungstheologie ist Theologie im strengen Sinn. Sie predigt nicht Klassenkampf, sondern die Überwindung des real existierenden Antagonismus von Klassen und Machtgruppen. Und auch des Rassismus, woraus Elend und Entwürdigung des größten Teils der Menschheit hervorgehen. Das Ziel ist in allen Dimensionen des menschlichen Lebens Gott als den Gott des Lebens und Überwinder des Todes erkennbar zu machen.
"Armut – die Herausforderung für den Glauben" heißt der komplette Titel des Buches. Das christliche Sein bestimmt also das Bewusstsein. Ob der Mensch in den Slums daran zweifelt, dass die römisch-katholische Kirche seine Verbündete ist, dieser herausfordernden Frage stellt sich der Kardinal nicht. Der Verlag kündigt den schmalen Band als Müllers persönlichstes Buch an.
Der persönlichste Beitrag allerdings stammt gar nicht vom Autor selbst, sondern von seinem Weggefährten Josef Sayer. Der frühere Chef des kirchlichen Hilfswerks Misereor erzählt, wie der Dogmatikprofessor Gerhard Ludwig Müller auf dem gestampften Lehmfußboden in den Lehmziegelhäusern der Campesinos schlief, wie er mit Flöhen und Meerschweinchen ringen musste und bei Kälte und Hagel in mehr als 4000 Meter hoch gelegene Dörfer kletterte. Müller selbst erwähnt auf fast jeder Seite Päpste und Enzykliken, aber er schildert keine einzige Begegnung mit einem armen Menschen. An einer Stelle schöpft der Leser zunächst Hoffnung. Da schreibt der Autor:
"In Peru sind mir zwei Christen begegnet, in denen sich die Sehnsucht des Volkes nach der Erfahrung der unverlierbaren Würde des Menschen symbolisiert."
Doch dann stellt sich heraus: Die beiden Christen sind Heilige, also tot:
"Die heilige Rosa von Lima und Martin Porres sind mir zu lieben Freunden geworden, in denen die Ziele der Befreiung und Erlösung in der Endgestalt aufleuchten."
Daran schließt Müller ein Gebet an. Dass ein Gottesmann auf die Kraft des Gebetes vertraut, überrascht nicht. Dass sich ein Kurienkardinal mit seiner Kirche im Reinen weiß, ebenso wenig. Dass Müller aber an keiner Stelle das Theologieseminar verlässt, ist schon fast Ungehorsam gegenüber dem Papst. Müller holt sich mit diesem Buch keine Beulen in der Welt da draußen. Er hat zwar oft bewiesen, dass er hart austeilen kann. Aber hier lässt er die Faust in der Tasche, theologisch versiert, politisch uninspiriert. Punktsieg für Franziskus.
Gerhard Ludwig Kardinal Müller: "Armut. Die Herausforderung für den Glauben"
Kösel Verlag, 176 Seiten, 17,99 Euro.
Kösel Verlag, 176 Seiten, 17,99 Euro.