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Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker (Hg.): Schlagwörter und Schlachtrufe aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte

Anna Seghers verteidigte Stalins Massenterror im Namen der Opfer des Faschismus, Rosa Luxemburg bekannte sich zu Lenins Gewaltpolitik im Namen der Opfer des Imperialismus. In ihrer letzten Schrift "Fragment über Krieg, nationale Frage und Revolution" ist dieses Bekenntnis unbedingt:

Hermann Theißen | 23.06.2003
    Der Bolschewismus ist das Stichwort für den praktischen revolutionären Sozialismus, für alle Bestrebungen der Arbeiterklasse zur Machteroberung geworden, und in diesem Werk - wie immer in großen historischen Zusammenhängen – verschwinden wesenlos alle besonderen Fehler und Irrtümer des Bolschewismus.

    Bekannter wurde Rosa Luxemburgs zuvor verfasste Streitschrift gegen Lenin, die in dem Credo mündete, Freiheit sei immer die Freiheit der Andersdenkenden. Es markiert den Aufmacher einer zweibändigen Edition des Leipziger Militzke Verlags über "Schlagwörter und Schlachtrufe" aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte. Der Leipziger Philosophiehistoriker Helmut Seidel hat ihn verfasst.

    Gedankenfreiheit war für (Rosa Luxemburg) mit dem Streben nach Wahrheit im Bunde, ein Denken, das die Möglichkeit des Irrtums nicht ausschließt. (...) Aber eben weil errare humanum est gilt, ist die freie Auseinandersetzung, die in keiner Weise eingeschränkt werden darf, ein notwendiges Moment jeglichen Fortschritts.

    Das klingt banal, doch für Vertreter des orthodoxen Marxismus ist diese Maxime offensichtlich nach wie vor eine Herausforderung, der man sich lieber doch nicht stellt. Helmut Seidel jedenfalls verzichtet in seiner Abhandlung auf jene (selbst)kritische Reflexion, die aus Irrtümern "Fortschritte" macht. Im Namen Rosa Luxemburgs fordert der Autor die "Wahrheit" ein, die niemals "absolut", sondern immer "historisch-konkret" sei. Den konkreten "Lügen" der DDR-Historie und des realen Sozialismus geht er indes konsequent aus dem Weg und relativiert den spezifischen Terror mit Verweis auf allgemeinen Terror.

    Vordergründig steht der Satz mit (Rosa Luxemburgs) kritischer Analyse der Russischen Revolution vom Oktober 1917 im Zusammenhang. Wer aber auf die Sprache zu achten versteht, wird den existenziellen Aufschrei, der in ihm steckt, nicht überhören. (...) Die Geschichte ist prall gefüllt von Beispielen, die vom intoleranten und mörderischen Umgang mit Andersdenkenden zeugen. Sie reichen vom Tod des Sokrates und den Sünden der katholischen Kirche bis zu den Brutalitäten des Faschismus und den "Säuberungen" Stalins.

    Solch planierende Plattitüden sind symptomatisch für die von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker - beide einstmals Koryphäen der DDR Historiographie - herausgegebene Edition. Die beiden Bände kommen zwar mit ideologiekritischem Impetus daher, sind tatsächlich aber ein Dokument von Trotz und Hilflosigkeit, die viele derjenigen befallen haben, die einst den Ideologieapparat gefüttert, sich in dessen Phraseologie verfangen haben und heute keinen Weg mehr aus dem ideologischen und sprachlichen Korsett finden. Völlig wahnwitzig liest sich, was Günter Benser zum Stichwort "Keine Fehlerdiskussion" zum Besten gibt. Diese Parole, räumt der Berliner Historiker ein, sei auf Versammlungen der SED "nicht selten mit drohendem Unterton" vorgetragen worden, benennt gegen diese Praxis dann ausgerechnet Lenin als Vorkämpfer offener Fehlerdiskussion und setzt noch einen drauf:

    Und zweitens ist in der SED durchaus sehr oft und recht intensiv über Fehler gesprochen worden, zeitweise mehr als in jeder anderen deutschen Partei. Wer daran zweifelt, braucht nur zu den Reden Walter Ulbrichts zu greifen.

    Erheiternd auch, wenn der Historiker Kurt Finker sich in seinem Aufsatz zum Stichwort "Verordneter Antifaschismus" völlig unbekümmert aus dem Stehsatz vulgär marxistischer Phraseologie bedient

    "Verordneter Antifaschismus" - so lautet ein Schlagwort, das seit dem Ende der 80er Jahre von antisozialistischen Kräften verbreitet wurde, um den antifaschistischen Neubeginn in der Sowjetischen Besatzungszone /DDR seit 1945 zu diffamieren und andererseits die neofaschistische Restauration in den Westzonen/der BRD zu verschleiern.

    Als Urheber der Rede vom "verordneten Antifaschismus" macht Finker Ralph Giordano aus, dem er großzügig zugesteht, seine Äußerungen enthielten Beobachtungen, "die in allen Untersuchungen zur Geschichte der DDR nicht unberücksichtigt bleiben sollten".

    Dennoch: Sie ignorierten wichtige und internationale Zusammenhänge und zeugten von beträchtlicher antikommunistischer Arroganz des Autors.

    Schlimmer noch:

    Obwohl ansonsten Ratschläge jüdischer Antifaschisten gegenüber nicht gerade aufgeschlossen, griffen in diesem Falle westdeutsche Politikmanager diese Formel begierig auf, um sie sowohl zu einer "Delegitimierung" der DDR als auch zur Vernebelung der BRD-Nazivergangenheit zu instrumentalisieren.

    Genau diese Argumentationsfigur, derzufolge die Bundesrepublik alleiniger Erbe des Hitler-Faschismus sei, während die DDR posthum zu einem Teil der Anti-Hitler-Koalition erklärt wird, war Ausgangspunkt von Giordanos Überlegungen. Helmut Metzler, der Psychologieprofessor aus Jena, versucht sich an der Parole "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" und kann der verhängnisvollen Sozialfaschismusthese von KPD und Komintern nicht aus dem Weg gehen. Der nötigen Kritik nimmt er mit Einfühlsamkeit die Schärfe:

    Die gesamte Haltung der SPD, ihre Koalitionspolitik mit den bürgerlichen Parteien, schien die gemutmaßten Chancen für den Übergang zur Revolution zu untergraben. Das musste folglich als Verrat gegeißelt werden. Wenn es die SPD war, die sich als das erste zu nehmende Hindernis dem erfolgreichen Kampf für die Revolution in den Weg stellte, dann war sie der Feind der Revolution und schließlich mit allen linken Gruppierungen und Abspaltungen, soweit sich diese nicht zur KPD bekannten - sogar der Hauptfeind.

    Überzogen, aber verständlich, würde Ernst Nolte sagen. Helmut Metzler fährt fort, indem er dem historischen Prozess das Subjekt entzieht und den Weltgeist walten lässt.

    Die Herausbildung sektiererischer Gruppen in der KPD, falsche Einschätzungen des Kräfteverhältnisses, die Unterordnung unter außenpolitische Interessenlagen der KPdSU sowie die Unkenntnis über das wahre Wesen und über die nicht für möglich gehaltene kommende Barbarei des ab 1933 herrschenden Faschismus trugen dann dazu bei, in der aktuellen Entwicklung der SPD eine Faschisierung zu erblicken, die im Einklang mit einem Hineinwachsen des bürgerlichen Staates in den Faschismus stünde.

    "Wer sich der Vergangenheit nicht erinnert, ist verurteilt, sie noch einmal zu erleben!" Das war ein beliebter Schlachtruf berufsmäßiger "Antifaschisten". Man möchte es gegen die Herausgeber dieser Aufsatzsammlung kehren. Für Liebhaber vulgär marxistischer Realsatire die biographischen Angaben zu dem Werk: Die zweibändige Edition "Schlagwörter und Schlachtrufe - Aus zwei Jahrhunderten deutscher Geschichte" wird von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker herausgegeben. Sie ist erschienen im Leipziger Militzke Verlag. Band 1 hat 352 Seiten, Band 2 400 Seiten. Jeder Band kostet 24 Euro 80