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Leben und Leiden im Stalinismus

2007 entdeckte Orlando Figes den Briefwechsel von Lew, der jahrelang im Gulag saß, und Swetlana Mischtschenko. Die Briefe des Paares sind ein eindrucksvolles Zeitdokument über das Alltagsleben im Stalinismus, das der britische Historiker mit seinem Buch nun erschlossen hat.

Von Robert Baag |
    Wer den Gulag, Stalins Straflager, durchgemacht hat, dem hat sich dieser gellende Ton zeitlebens ins Gehör, ins Gehirn eingebrannt – jeden Morgen, Tag für Tag aufs Neue: Einige Hammerschläge der Tor-Wache auf ein an einer Schnur baumelndes Stück Eisenbahnschiene. Das Signal zum Sammeln, zum Arbeitsbeginn, bei Wind und Wetter, bei arktischen Temperaturen. Das sogenannte "Petschorlag", ein Lagerkomplex unweit des Nord-Ural, wohin 1946 der damals 29-jährige Lew Mischtschenko verschickt wird, macht hier keine Ausnahme.

    Sein Verbrechen: Anstatt sich wie von der Propaganda gewünscht - "Za rodinu, za Stalina" ("Für die Heimat, für Stalin") – opfern zu lassen, gerät er als junger Sowjetoffizier in deutsche Kriegsgefangenschaft, wird 1945 von der Roten Armee in Deutschland befreit, um sogleich wieder von der "Smersch", der militärischen Spionageabwehr, verhaftet und als angeblicher Vaterlandsverräter und Kollaborateur zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt zu werden. Lews Moskauer Verlobte Sweta, die gleichaltrige Swetlana Iwanowa, bleibt weit über den Krieg hinweg in quälender Ungewissheit, was mit Lew geschehen sein könnte.

    "Ungefähr 20 Millionen Menschen, hauptsächlich Männer, litten in Stalins Arbeitslagern. Die Häftlinge durften in der Regel einmal im Monat Briefe schreiben und empfangen, wobei ihre gesamte Korrespondenz zensiert wurde. Es war schwierig, eine intime Beziehung aufrechtzuerhalten, wenn die Polizei als Erste jedes Wort las. Eine Verurteilung zu acht oder zehn Jahren hatte fast immer zur Folge, dass enge Verbindungen abgebrochen wurden; oft verloren Häftlinge Freundinnen, Ehepartner und ganze Familien."

    Sweta und Lew dagegen passen nicht in dieses Muster. Schon 1946 tritt Lew – zunächst über Dritte - aus dem Lager mit Swetlana in Moskau per Brief in Verbindung.

    "Sie fanden nicht nur einen Weg, einander zu schreiben und sich sogar illegal zu treffen, ein eklatanter Verstoß gegen die Gulag-Vorschriften, der eine schwere Bestrafung nach sich gezogen hätte -, sondern sie bewahrten auch jeden kostbaren Brief als Beleg für ihre Liebesgeschichte auf, wodurch sie ein noch größeres Risiko eingingen."

    Rund 1500 Briefe sind damit der Nachwelt erhalten geblieben. Sie liefern faszinierende, oft auch erschreckende und nicht selten schockierende Einblicke in das Alltagsleben diesseits und jenseits des Stacheldrahts eines Straflagers im Hohen Norden Russlands. Erst 2007 stößt Orlando Figes in den Moskauer Büros der Menschenrechtsorganisation "Memorial" fast zufällig auf sie:

    "Der wertvollste Teil des Archivs befand sich in einer braunen Sperrholzkiste mit Lederbesatz und drei Metallschlössern, die sich leicht aufklicken ließen. Niemand konnte sagen, wie viele Briefe sie enthielt sondern nur wie schwer die Kiste war: 37 Kilo."

    Lews und Swetlanas Briefwechsel. - Orlando Figes ist es nach seiner vor vier Jahren erschienen Arbeit "Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland" einmal mehr gelungen, Quellen aus dieser Epoche solide einzuordnen und zu interpretieren, vor allem aber all dies auch noch in einer bemerkenswert literarischen, fesselnden Sprache zu vermitteln. Das Leben im Gulag war hart, entbehrungsreich, kostete unzählige Menschenleben. – Swetas zeitlich parallele Betrachtungen zu ihrem Alltag in der "zivilen" Nachkriegs-Sowjetunion – außerhalb des kasernierten Gulag-Kosmos - vermitteln ihrerseits Einsichten, die vielen heutigen Zeitgenossen, Ausländern zumal, weitgehend unbekannt sein dürften - deshalb aber umso spannender sind.

    "Im August (1947) ergab sich für Sweta eine Möglichkeit (dienstlich) nach Uchta zu reisen, einem vom Gulag dominierten Industriestädtchen an der Eisenbahnstrecke zwischen Kotlas und Petschora. Sie hielt sich (anschließend drei Tage) in Petschora auf, konnte diesmal aber viel weniger Zeit – wahrscheinlich nicht mehr als ein, zwei Stunden – mit Lew verbringen und das in Gegenwart eines Wächters. Um diese kurze Zeit mit Lew zu verbringen, hatte sie eine Eisenbahnfahrt von 4340 Kilometern Länge auf sich genommen."

    In Uchta, Swetas Zwischenetappe, gibt es heute ein Heimatkundemuseum. Fast ein wenig verschämt hat man dort vor einiger Zeit einen Raum hergerichtet, der auch an die Gulag-Vergangenheit dieses Landstrichs erinnern soll. Wohl zu wenig für den Geschmack von Jelena Buldakova, einer jungen Geschichtslehrerin, die zugleich für diese Ausstellung verantwortlich ist. So sagt sie das zwar nicht, doch sie bedauert:

    "Bei uns wird jetzt ein Prozess innerhalb der Gesellschaft deutlich so etwa nach der Devise: Wenn etwas Unangenehmes in der Geschichte unseres Landes thematisiert wird, dann heißt das: 'Wir lieben unser Land nicht. Wir sind keine Patrioten.' Mit solch einer Ansicht bin ich kategorisch nicht einverstanden. Viele sagen: 'Es reicht! Lasst uns über etwas Angenehmes reden!''"

    Erinnerungen wie jene von Sweta und Lew sind das beste Gegenmittel gegen solch eine im Kern geschichtsvergessene Grundhaltung, sei es aus Vorsatz oder einfach nur gleichgültiger Bequemlichkeit. Ihre Briefe sprechen für sich selbst, berühren, sind jedoch keineswegs sentimental. Emotionale Passagen wirken niemals aufgesetzt, verstärken vielmehr die Authentizität ihrer Erzählungen und Reflexionen. Dies macht sie so wertvoll und zu einem wichtigen neuen Bestandteil des bereits vorliegenden anti-totalitären Literatur-Kanons. Diesen Briefwechsel aus der Endphase des Hochstalinismus der Nachwelt – und nicht nur für Russland – so beeindruckend erschlossen zu haben, ist ein großes Verdienst von Orlando Figes.

    Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors.
    Hanser Verlag 2012, 384 Seiten, 24,90 Euro
    ISBN 978-3-446-24031-5