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Leben zwischen Liebe und Rechnern

Die Schriftstellerin Angela Krauß schreibt in ihrem neusten Werk "Im schönsten Fall" über die Liebe, die dem modernen Irrsinn standhalten muss.

Von Anja Hirsch | 03.05.2011
    Karel und ich, wir sind einander durch Zufall auf der Straße begegnet. Ich: Herrlich blau der Himmel heute! Er: Ein Zerfallsphänomen des Lichtspektrums. Er hatte eine steile Falte auf der Stirn dabei. Als ich lachte, wurde sie tiefer und, ganz wie seine Nase, leicht asymmetrisch. Als ich sie berührte, verschwand sie sofort.

    Die Liebe ist eine feinstoffliche Angelegenheit. Und wenn eine Schriftstellerin wie Angela Krauß darüber schreibt, kann man damit rechnen, dass chemische Stoffe wie Silizium das Paar umkreisen wie umtriebige Kleinstplaneten auf der Suche nach dem Ganzen. Es mag ein wenig pathetisch geklungen haben, als die Autorin in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen 2004 deklarierte, Poesie und Liebe hätten den gleichen Urgrund: die Sehnsucht nach Vollkommenheit. Aber es ist genau diese Suche, die Angela Krauß in ihrem Werk immer und immer wieder ausbuchstabiert. Unnötig zu sagen, dass sie nicht kantenlos verläuft. Vor allem wenn - wie im jüngsten Werk "Im schönsten Fall" - Liebe und Ganzheitswünsche dem modernen Irrsinn standhalten müssen.

    Liebe muss leicht sein, gemessen an der Lebensanstrengung überhaupt.

    Wer wollte dem widersprechen? Karel aber sucht nichts Geringeres als die Weltformel. Er will Materie überwinden, was ein gigantischer Zukunftsschritt wäre. Die Ich-Erzählerin beschäftigt sich beruflich mit Katastrophen. Täglich sammelt sie aktuelle Berichte - "Überfälle, Anfälle, Unfälle, Ernstfälle, den jüngsten Gipfelbericht". Ihr Arbeitsplatz in einem Gründerzeithaus, Wand an Wand mit Studenten, Advokaten, Architekten und einer skurrilen Künstlerin, ist "eine Werkstatt für 3D-Zukunftsentwürfe". Zettel liegen herum mit Notizen, die längst ein Eigenleben führen. Man zweifelt, ob diese Frau überhaupt Aufträge hat. Gleicht sie nicht mit ihren flatterhaften, sirenengleichen Bemerkungen über ihre Mitbewohner und die Welt eher einer Seherin, Dichterin, Zweiflerin?

    Hoch oben unter dem Dach über der Stadt sitze ich und widme mich dem Einzelwesen, einer kleinen fantastischen Kreatur; es braucht seine Zeit, ehe sie fliegen, schauen und manchmal sogar sprechen kann. Am Ende setze ich drei Klicks, und sie verschwindet im Schwarm. (...) Das ist meine Arbeit.

    Die Wirkung dieser Prosa beruht auf ihrer schillernden Mehrdeutigkeit: Einerseits scheint die Wirklichkeit mit einem zauberhaften Glanz überzogen; Dinge und Tätigkeiten schweben eher als zu kleben; vogelgleich erzählt diese Frau aus erhobenen Blickwinkeln. Andererseits behält sie Bodenhaftung und spricht über konkrete Projekte. Regelmäßig unterbrechen sachliche Zusammenfassungen von Weltgipfeln ihre leichtfüßigen Liebesschnipsel. Tatsächlich scheint sich um das Paar alles zu verdüstern: das Wetter, das Glück, die Sonne, das Genom. Sogar die Vorfreude, sagt man, geht zurück. Impotenzen mehren sich. Das Kommen und Gehen umtriebiger Hausbewohner macht unruhig. Ein Liebessterben auf Raten durchzieht den Roman.

    Unsere Liebe veränderte sich lange nicht. Sie nahm eine streng unverwandte Haltung ein und ignorierte alles, was ihr widersprach.

    Und wenig später:

    Als ich Karel das erste Mal vergessen hatte, weinte ich lange, als ich es bemerkte.

    Nie ist man sicher, ob der Gegenstand dieser Erzählerin die Liebe, die Welt von morgen oder doch eher eine "vollständig ausgedachte Welt" ist. Oder ob das nicht überhaupt das Gleiche ist - nämlich in allen drei Fällen Spekulation. Beziehungsweise: Poesie. Immer weniger eine Figur, dagegen immer stärker ein alles bündelndes Ich scheint hier die Welt einzufangen und wieder auszuspucken: als Fließtext, Gedicht, Fragment, auch formal also kompatibel gemacht zum Lebensdickicht. Deutlich wie selten fängt diese dichte Komposition unsere Gegenwart und moderne Lebensweise ein. Krauß bezieht als eine Art "poeta vates" Stellung in einer unbegreiflich gewordenen Welt: sehend - und eben deshalb vielleicht um so sehnsüchtiger. Aufklärung liegt ihr aber fern. Sie zeigt eher ungläubig auf das, was sich ihr in den Weg stellt und Stück für Stück seit Jahrzehnten die kindliche Vorstellung vom Glück zermürbt.

    Onkel Roch zog einen von sieben Stiften aus dem Etui, er schien sie abzuwägen, noch ehe er sich für einen entschied, dann zeichnete er auf lachsrotem Millimeterpapier mit einem Winkelmesser aus Bakelit die Grundfläche des Weltgebäudes: das Quadrat.

    Verführerisch einfach. Aber eben nur reine, mathematische Theorie, welche die Ich-Erzählerin, als sie noch Kind war, nicht daran hinderte, lebenspraktisch selbst das Höchste anzustreben: die Welt, das All, der Traum zu werden, "das Unendliche, ohne es vorher verstehen zu müssen". Nur so bieder wie ihre Freundin Uta wollte sie nicht werden. Und auch die anderen weiblichen Rollenmuster - Mutter, Tante - boten sich zur Nachahmung nicht an. Man darf vermuten, dass sich die Ich-Erzählerin - wie Angela Krauß selbst - besser auf das selber schöpfen von Welt verstand. Als der Radius größer wurde, Orte und Menschen sich rasant vermehrten und sogar die möglichst flexibel gestaltete Aufrechterhaltung besagter Liebesbeziehung über weite Distanzen auf dem Spiel steht, mucksen sie aber doch kleinlaut auf: die alten Wünsche aus einer langsameren Zeit.

    Es geschah, dass mich ein Brief erreichte, weich und mollig zu greifen - ein Brief! Die Zeit der Briefe geht gerade zu Ende.

    Bekannt wurde die 1950 in Chemnitz geborene Angela Krauß, die am DDR-Schreibinstitut Johannes R. Becher studierte, 1990 mit ihrer Erzählung "Der Dienst", eine Erinnerung an den stets abwesenden Vater, der als Werkspolizist eingesetzt war und das ihm auferlegte Schweigen auch zu Hause praktizierte. Krauß' Blick - es folgten schmale Prosabände und Gedichte - richtete sich nach der Wende von Mauer und Stacheldraht weg- und zur Welt hin aus. Reisen und Tiere aller Art spiegelten innere Befindlichkeiten. Dennoch hielt sich bei allem Hang zur Verspieltheit ein politischer Anspruch. Wie eine Chronik zur Ausbildung ostdeutscher bis deutscher Identität liest sich Krauß' Werk, gestützt und getrieben von einem Subjektivismus, der die UNOrdnung des Erlebens erfasst. Auch die Geschichte von Karel und der Ich-Erzählerin ist chaotisch angelegt. Eingebettet in Wissenschaft und Fakten, um deren Wahrheitsgehalt die Ich-Erzählerin wie um die eigene Liebesfähigkeit ringt, erscheint sie schließlich als kleine Spiegelung des großen Urknalls. Von dem heißt es am Ende des Romans, er streue nicht etwa von einem Punkt aus Raum ins All; vielmehr rotteten sich inzwischen ganze Galaxien zu einem großen Geisterfahrer zusammen, der nun die Erde - und wohl auch die Liebe dieses global verzweigten Liebespaares - zu zerstören drohe. Untergangsstimmung also, wenigstens gerüchteweise. Zurück bleibt das Bild einer Flüchtenden auf der Suche nach einem Ort ohne Wind.

    Am Tag der Bekanntmachung des dreißigsten Weltgipfelberichts zog ich meinen Koffer durch die engste Gasse der Stadt. (...)
    Mein Koffer: prall von Schuhen, von den Aufzeichnungen vom Anbeginn der Zeit, den Musterbögen der Zukunft
    und den Resten meiner Rechenkunst.


    Angela Krauß gehört mit Sibylle Lewitscharoff oder Felicitas Hoppe zu jenen zweifellos selbstständigen Schriftstellerinnen, die unumwunden aus der Sprache schöpfen wie aus einem unendlichen, nie verendenden Quell. Ihren Texten ist eine je unterschiedliche Lust eingeschrieben. Sie verwandeln Gegenwart in einen reizenden, rasenden Sprachstrom, der glitzert und flirrt. Bei genauerem Hinschauen mag er manchmal etwas aus der Fasson geraten. Manche isolierte Sätze möchte man sich dagegen an die Wand pinnen, weil sie einen trostreich mit dem Lebensdilemma verbinden. Wie dieser Satz: "Innerlich ist man ständig am Umräumen". "Im schönsten Fall" ergeht es einem dann wie der Mutter der Ich-Erzählerin, hätte sie nur damit gerechnet: dass alles, einfach alles, "auf eins zuläuft, so wie ein Flußdelta ins Meer findet". Krauß schreibt klare, bildstarke Prosa zum Anfassen und Fühlen. "Mein Schreiben", hat sie jüngst in einem Interview bekannt, "ist eigentlich ein Instrument, die Leuchtkraft der Welt zu erhalten oder wiederherzustellen." Das ist viel in der heutigen Literaturlandschaft.

    Angela Krauß: Im schönsten Fall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 99 Seiten, 14,90 Euro.