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Lebendige Biografie eines Getriebenen

Er ist der Urahn aller wandernden Schriftsteller: Johann Gottfried Seume. Mit Besinnlichkeit hatte er allerdings nichts am Hut. Sein "Spaziergang nach Syrakus" war eher ein Gewaltmarsch. Bruno Preisendörfer folgt dem Lebensweg des Autors, dessen Geburtstag sich am 29. Januar zum 250. Mal jährt.

Von Tobias Lehmkuhl |
    Bruno Preisendörfer: "1763 ist er geboren und am 29. Januar ist eben der 250. Geburtstag und es bietet sich an, an diesen Seume mal wieder zu erinnern und vor allen Dingen natürlich auch zu erzählen, dass er mehr geschrieben hat als den 'Spaziergang nach Syrakus', mit dem er literarisch überlebt hat, aber es ist ein außerordentlich vielseitiger Autor, sehr faszinierender Autor, ein sehr lebendiger Autor, ein Autor, der aus den üblichen Diskurssituationen, wenn man so sagen will, oder Schreiblagen und Stillagen der Zeit herausfällt."

    Ungewöhnlich aber war nicht nur Seumes Art zu schreiben, wir kommen noch darauf zurück, ungewöhnlich war vor allem auch sein Leben: Geboren in einfachste Verhältnisse findet er Förderer und immatrikuliert sich als Student in Leipzig, wird dann aber von hessischen Werbern einkassiert und als Soldat nach Halifax verschickt. Er kehrt zurück nach Europa, gerät nun in die Fänge der preußischen Armee, desertiert, wird wieder gefangen, tritt in russische Dienste, gerät in polnische Kriegsgefangenschaft, schließt schließlich doch noch sein Studium ab und wird Lektor bei Göschen. Da ist er dann gerade Vierundzwanzig.

    Bruno Preisendörfer: "Er war immer ein Mensch auf dem Sprung, also er ist immer wieder aufgebrochen, nicht nur nach Syrakus, er ist ja auch einmal um die ganze Ostsee gewandert mit seiner sogenannten Nordischen Reise 1805. Er war ein sehr quirliger und nicht bodenständiger Mensch, sowohl was sein Leben als was auch sein Denken angeht."

    "Die Hessen", schrieb Seume einmal, "schickten mich gegen meine Willen, aber nicht ganz gegen meine Neigung nach Amerika". Zeitlebens kokettierte er gerne mit seiner Erfahrung als Soldat, mit seinem zweiten, wie er es nannte "huronischen" Selbst. Er war recht stolz auf diese Erfahrung, wie er überhaupt die unmittelbare, eigene Lebenserfahrung sehr hoch schätzte und auf Buchgelehrsamkeit wenig gab.

    Bruno Preisendörfer: "Also es gibt Schriftsteller, für die ist die Literatur für das Leben da, es gibt auch Autoren, für die ist das Leben für die Literatur da. Vielleicht kann man das vereinfacht so erstmal sagen. Das sind verschiedene literarische Existenzformen. Für Seume kommt immer zuerst das Leben. Wobei ich ganz sicher bin, dass wenn man Seume die Schreiberei weggenommen hätte, dann wäre der eingegangen."

    Seume brauchte das Schreiben, anders wusste er sich häufig nicht mitzuteilen. Im direkten Kontakt tat er sich schwer, in Briefen aber konnte er aus sich herauszugehen und andere für sich einzunehmen. So pflegte er auf dem Postweg zahlreiche Freundschaften, die dieser Distanz durchaus bedurften und ansonsten wohl kaum hätten Bestand gehabt hätten.

    Bruno Preisendörfer: "Er war ein außerordentlich schwieriger Mensch, denke ich. Er war bestimmt kein angenehmer Zeitgenosse. Es wird ja immer wieder von seiner Knurrigkeit, seiner Grimmigkeit, von seinem Ernst erzählt, und das ist sicherlich auch alles richtig, man konnte natürlich manchmal an den Verhältnissen schon verzweifeln und verrückt werden, gerade wenn man von unten kommt."

    Es ist ein Verdienst der Biografie Bruno Preisendörfers, dass der Briefeschreiber Seume hier ausführlich zu Wort kommt. Auf diese Art erfährt man viel über seinen komplizierten Charakter, sein quirliges, manchmal sich selbst quer im Weg stehendes Wesen.

    Bruno Preisendörfer: "So eine Figur war Seume, dem war das nicht in die Wiege gelegt, dass er Schriftsteller wird. Denn er war in seiner Sozialisation, vielleicht auch seiner psychologischen Konfiguration halt eher ein einsamer, innerlich verwaister Mensch. Der Vater ist relativ früh gestorben und das hat ihn sehr mitgenommen, weil er hing sehr am Vater. Das Verhältnis zur Mutter war eher distanzierter, und dann war es mit den Frauen in seinem Leben auch immer außerordentlich schwierig."

    Zwei große, unglückliche Lieben gab es im kurzen Leben Johann Gottfried Seumes, beide haben ihn an den Rand des Selbstmords gebracht. Glücklicherweise für uns Leser aber hat er dann doch nicht zum Strick sondern zum Tornister gegriffen und ist zweimal losgezogen, geflohen vor dem eigenen Unglück und dabei doch, dass ist wohl das sonderbarste an diesem Seume, offen für den Rest der Welt, getrieben zudem von einer ganz unzeitgemäßen Neugier - auch wenn er einmal scherzhaft bemerkte, er sei aufgebrochen, um sich das Zwerchfell etwas auseinanderzuwandeln, das er sich über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammen gesessen habe.

    Bruno Preisendörfer: "Diese Werke zeichnet aus, also man könnte das Reportageliteratur nennen, also Reportage avant la lettre, die Gattung und das Gewerbe gab es ja damals noch nicht. Es war eine sehr lebendige Literatur, es war eine Literatur der Nahsicht, also er hat aus der Nähe die Verhältnisse beobachtet und dann war es eine Sicht nach unten, er hat da nicht vor den Kirchen, Tempeln und Museen gestanden, sondern in den Wirtshäusern und am Straßenrand, als Fußgänger, nicht in der Kutsche, das war die Perspektive, dann war es auch nicht sehr salbungsvoll, es war immer nah dran auch am eigenen Gemüt und es ging immer darum, wie nehme ich das wahr, also keine Objektivitäten, noch dazu eine Reiseführerobjektivität, gar nichts, sondern eine sehr ausgestellte, sehr nachdrückliche Subjektivität, die diese Texte auszeichnet, die diese Texte auch lebendig gehalten hat."

    Der "Spaziergang nach Syrakus" hat wenig mit dem anderen große Italienbuch der Deutschen gemein, mit Goethes "Italienischer Reise". Verwandt ist er eher mit Lawrence Sterne "Sentimantaler Reise", dessen leichter, scherzhafter Ton ihm näher liegt. Während Sternes "Reise" allerdings ein fein ziseliertes Stück Hochliteratur darstellt, ist Seumes "Spaziergang" tatsächlich kunstloser, dabei aber von großer Unmittelbarkeit - sprunghaft, scharfsinnig, widersprüchlich. Seume war, bemerkt Preisendörfer, einer, der sich schwer fassen ließ und darum nicht zuletzt auch den Nazis zu dubios und unberechenbar war. Dabei hätten sie ihn vielleicht gerne als einen ihrer Kronzeugen vereinnahmt, denn er war durchaus Patriot und schimpfte wider den Adel, sodass seine "Nordische Reise" zeitweilig verboten wurde.

    Bruno Preisendörfer: "Ich glaube, das Seume interessant ist als politischer Schriftsteller, auch als sozialkritischer Schriftsteller, weil er eben auch diese Perspektive von unten hat, das kann man nicht genug betonen, so etwas kommt ja heute häufiger vor, aber damals war das recht ungewöhnlich."

    Seume starb 1810, gerade einmal 47 Jahre alt, ein Mensch, der wohl nie recht glücklich geworden ist im Leben, sich diesem aber nichtsdestotrotz ganz und gar ausgeliefert hat, ungeschützt, wie es im Untertitel der Biografie heißt, die Bruno Preisendörfer mit leichter Hand und sichtlicher Freude an den Briefen und Büchern Seumes geschrieben hat. Er ist dabei nicht chronologisch, sondern thematisch vorgegangen, was auch diesem Werk eine schöne, seinem Gegenstand gemäße Lebendigkeit verleiht.

    Bruno Preisendörfer: Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben.
    Galiani Verlag, Berlin 2012, 380 Seiten