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Literarische Außenseiter

Der 1948 in Barcelona geborene Enrique Vila-Matas hat sich früh an der französischen und lateinamerikanischen Literatur orientiert und Romane und Erzählungen geschaffen, die geprägt sind von seinen umfassenden Literaturkenntnissen. Oft knüpft er an das Werk eines namhaften Schriftstellers an.

Von Margit Klingler-Clavijo | 21.04.2008
    So bezieht er sich in "Paris endet nie" auf das Alterswerk Ernst Hemingways, um seine ersten Schreibversuche in Paris zu schildern und das Untermieter Dasein in der rue St. Benoit, im Haus von Marguerite Duras. Hermann Melvilles Erzählung Bartleby ist der Ausgangspunkt seines Romans "Bartleby & Co." und Robert Walsers "Jakob von Gunten" der seines bei Nagel und Kimche erschienenen Romans "Doktor Pasavento".

    Enrique Vila - Matas hat eine Vorliebe für Außenseiter und richtet sein literarisches Augenmerk auf Schriftsteller, die sich dem Nichts und der Leere stellen und Grenzerfahrungen nicht scheuen. Gleich zu Anfang von "Doktor Pasavento" beschreibt er diesen Schriftstellertyp folgendermaßen:

    "Obwohl Schriftsteller in der Mehrheit kleinkarierte Snobs sind, gibt es einige wenige Ausnahmen, eine winzige Schar von Autoren, die liebenswert und weitaus faszinierender sind als der Rest der Menschheit, denn sie besitzen die Fähigkeit, einen mit erstaunlicher Leichtigkeit in eine andere Realität zu versetzen, in eine Welt mit einer anderen Sprache. (...) Die wenigen von der liebenswerten Sorte sind zauberhaft und leben ständig am Rand des Abgrunds."

    Enrique Vila - Matas kann mit allem aufwarten, was einen Schriftsteller von Rang und Namen kennzeichnet: Ein mittlerweile in 27 Sprachen übersetztes und mit zahlreichen Literaturpreisen bedachtes Werk: Romúlo Gallegos, Premio Heralde, Prix Médicis du livre étranger, Premio de la Real Academia Espanola, Premio Elsa Morante etc. Kritiker, die begeistert sind von seinen Gratwanderungen zwischen Fiktion und Realität, seinem Hang zum Schrägen und Abgründigen. "Exploradores del abismo - Ergründer des Abgrundes" heißt sein letzter, nach einem längeren Klinikaufenthalt entstandener Erzählband.

    Dabei kultivieren etliche seiner Romanhelden die Rolle des melancholischen Außenseiters, der sich selbst ein Rätsel ist und sich mit seinen Mitmenschen schwer tut. Wäre einer von ihnen nur annähernd so erfolgreich wie Enrique Vila- Matas, käme er um eine Selbstprüfung nicht herum. Und genau der unterzieht sich nun ein erfolgreicher Schriftsteller fortgeschrittenen Alters als Protagonist des Romans "Doktor Pasavento". Der renommierte Schriftsteller möchte sich liebend gern vom Lärm und Trubel der Welt zurückziehen, sich aus dem Literaturbetrieb ausklinken, da es, wie er im folgenden Zitat gesteht:

    "auf Dauer wenig zuträglich war, Bücher zu veröffentlichen, und größtenteils auch noch, um mir einen gewissen Namen zu machen, mich gutbürgerlich mit alldem zu arrangieren und am Ende lauter Albernheiten in Zeitungen und Illustrierten von mir zu geben, unfähig, mir ganz persönlich auch nur den kleinsten privaten Bereich zu bewahren. Nur dafür zu schreiben. Zu schreiben hauptsächlich, um fotografiert zu werden, welch herbes Schicksal." (S.64/65)

    Und wenn er einfach aufgehört und nichts mehr geschrieben oder veröffentlicht hätte? Waren Arthur Rimbaud, Juan Rulfo und etliche andere Schriftsteller nicht verstummt, nachdem sie das Wesentliche gesagt hatten? Das zieht Enrique Vila- Matas gar nicht erst in Betracht, dazu ist er viel zu vernarrt in das literarische Spiel. Unermüdlich inszeniert, parodiert und variiert er die Selbstbespiegelung des erfolgreichen Schriftstellers, der schwankt zwischen radikalem Rückzug, völligem Verschwinden und Verstummen und dem geheimen Wunsch nach Anerkennung. Die Angaben zu seinem realen Leben sind mehr als dürftig: wohnhaft in Barcelona, getrennt von seiner Frau, seine einzige Tochter Nora ist mit fünfzehn an einer Überdosis Heroin gestorben. In der Auseinandersetzung mit Alter, Einsamkeit, Tod und Wahnsinn geht es nicht um das subjektive Erleben des erfolgsverdrossenen Schriftstellers, vielmehr um das Spiel mit den Versatzstücken verschiedener Identitäten, mal ist er der Psychiater Ingravallo, mal der Psychiater Doktor Pasavento, den er wie folgt beschreibt:

    "Dieser Doktor sollte ein ganz neuer Mann sein, aber mit dem gleichen Bewusstsein, einzigartig zu sein, das ich hatte, als ich noch Andrés Pasavento hieß und meine Biographie sehr dürftig, um nicht zu sagen, nicht vorhanden war. Sollte ich mir eine für ihn ausdenken? Einen konkreten Anhaltspunkt hatte ich immerhin, denn ich kannte seine Gegenwart: gerade erst war Doktor Pasavento geboren worden, und schon fühlte er sich wieder abwesend, der Welt entrückt."

    Angesichts der Vielzahl von Travestien und Parodien, literarischen Anspielungen, Querverweisen und Zitaten wähnt man sich streckenweise auf einem strapaziösen Parcours durch die Weltliteratur. Jorge Heralde, Verlagsleiter von Anagrama und spanischer Verleger von Enrique Vila-Matas, hat die Romantrilogie, zu der der 2005 in deutscher Übersetzung erschienene "Bartleby & Co." sowie der immer noch unübersetzte Roman "El mal de Motano" gehören, kurz und prägnant "Kathedrale der Metaliteratur" genannt.

    Bindungslos und kontaktscheu reist der Schriftsteller durch Europa: Sevilla, Paris, Neapel, Zürich, Herisau . Zu seinen literarischen Wegbegleitern gehören Michel de Montaigne, Thomas Pynchon, W.H. Hudson. Robert Walsers "Jakob von Gunten" wird sein Kultbuch, aus dem er gern und häufig zitiert, und an Robert Walser bewundert er "den äußersten Abscheu, den jegliche Form von Macht bei ihm hervorrief und seinen frühen Verzicht auf jedwede Art von Größe und Erfolg."

    Sein Interesse an Robert Walser erschöpft sich nicht im ständigen Bezug auf dessen Leben und Werk, beschränkt sich nicht auf die winterlichen Spaziergänge in Herisau, entlang jenen Wegen, denen Walser dereinst gefolgt war, vielmehr geht es dem erfolgsverdrossenen Schriftsteller auch um die Aneignung und Fortsetzung von Robert Walsers Art zu schreiben, Mikrogramme zu verfassen, ja sogar den Roman "Doktor Pasavento" im Geist Robert Walsers zu schreiben. W.G. Sebald hat Robert Walsers Romanverständnis in dem ihm gewidmeten Aufsatz "Le Promeneur Solitaire" "als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch" charakterisiert und konstatiert, dass, ich zitiere:
    "die Hauptfigur, das Ich, in diesem Ich-Buch beinah gar nicht vorkommt, sondern ausgespart beziehungsweise verborgen bleibt unter der Menge der anderen Passanten."

    Das gilt auch für Enrique Vila-Matas Gratwanderungen zwischen Fiktion und Realität. Die absolviert er wie ein wendiger Seiltänzer, indem er mit brillanten Sprachspielereien die Angst vor dem Sturz in den Abgrund bannt und in seinen Travestien starre Identitätsbegriffe demontiert.

    Enrique Vila-Matas: "Doktor Pasavento"
    Übersetzung: Petra Strien, Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2007, 24,90 Euro