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London steht kopf

Georg Baselitz, bekannt dafür, dass er seine Motive gern auf den Kopf stellt, ist der erste deutsche Maler, dem in London eine große Retrospektive gewidmet wird. Die Schau in London ist ein Doppel-Ereignis: politisch und künstlerisch.

Von Hans Pietsch | 22.09.2007
    Gleich das erste Werk stößt vor den Kopf, auch heute noch: "Modell für eine Skulptur" ist ein halb auf dem Boden sitzender, halb liegender Mann aus grob behauenem Holz, der rechte Arm nach oben gereckt. Das Werk löste, als es 1980 auf der Biennale von Venedig zu sehen war, in den deutschen Feuilletons einen Skandal aus. Der ausgestreckte rechte Arm wurde als Hitlergruß interpretiert, die schwarze und rote Farbe, mit der das Holz bemalt ist, als die Farben des Dritten Reiches.

    Provokation - darauf legte es Baselitz vom Beginn seiner Karriere an. Sein erstes Skandalbild, "Die große Nacht im Eimer" von 1962/63, zeigt einen zwergenhaft gewachsenen Mann mit kurzen Hosen und nacktem Oberkörper, der mit der einen Hand seinen übergroßen erigierten Penis hält. Als er das Bild 1963 in Berlin ausstellte, wurde es von der Polizei wegen Obszönität beschlagnahmt. Dass der kleine Mann ein wild-wütendes Porträt von Adolf Hitler ist, spielte dabei keine Rolle. Der Künstler aber hatte erreicht, was er wollte: provozieren.

    Kurator Norman Rosenthal von der Royal Academy hat die Retrospektive seines alten Freundes, mit mehr als 60 Bildern, vielen Zeichnungen und Grafiken sowie einem Dutzend Holzplastiken, streng chronologisch gehängt - jeder Raum eine andere Werkgruppe: von den "Heldenbildern", dem "Neuen Typ", über die "Frakturbilder" und die "Motivumkehr" bis zu den jüngsten, als "Remix" bezeichneten Gemälden. Vorbei geht es an klotzigen Waldarbeitern und heldenhaften Männern, an abstürzenden Adlern und nackten Selbstporträts. Düstere Farben, viel Braun, viel Rot. Und dann sein Markenzeichen, die auf dem Kopf stehenden Bilder, als eines der ersten "Der Mann am Baum" von 1969 - der Versuch, das Bild von seinem Inhalt zu befreien: Abstraktion ohne den Verzicht auf das Figürliche. Besonders verstörend der Raum mit den Frakturbildern - zerlegte Körper, abgehackte Gliedmaßen. Eine wüste, wilde Malerei, die kompromisslose Untersuchung dessen, was es heißt, ein Deutscher zu sein und in einer brutalen Welt zu leben.

    Dazwischen immer wieder Skulpturen - gewaltige, mit Motorsäge und Axt aus riesigen Holzblöcken grob herausgeschlagene und - geschnittete Figuren - zwei Frauenköpfe etwa, mit einem fast radioaktiven Gelb bemalt, die er als "Dresdner Frauen" bezeichnet, trotz ihrer Monumentalität von großer Eleganz, oder zwei überlebensgroße stehende Figuren - ein Mann und eine Frau, teilweise Blau angemalt: "Meine neue Mütze" und "Frau Ultramarin", wie Figuren von den Osterinseln.

    Der letzte und größte Raum mit Werken der letzten Jahre zeigt dann einen anderen, einen neuen Baselitz: aus dem Berserker und Kraftmenschen, dessen Bilder aus der Wut heraus entstanden, scheint ein ruhigerer, grüblerischer Künstler geworden zu sein. Die Farben sind lichter, die Kompositionen heiter, manchmal sogar selbstironisch. Entwickelt sich da eine Art Altersstil? Baselitz wird Anfang nächsten Jahres 70.

    Er unternahm jedenfalls einen für einen Künstler äußerst ungewöhnlichen Schritt - er malte nahezu alle seiner Meisterwerke neu, der alte Künstler misst sich mit sich selbst als jüngerer Künstler. "Ich will testen, ob ich noch einmal schaffe, mich auf diese Höhen zu schwingen, auf denen ich mal war", sagt er im Interview. "Remix" nennt er die neuen-alten Bilder. So hat er vor zwei Jahren eines seiner Schlüsselwerke neu gemalt: "Große Freunde" von 1965. Beide Versionen sind zu sehen - die neue fast monochrom, es fehlen die bestürzenden Ruinen der alten politischen Ordnung. Schade nur, dass die neue Version der "Großen Nacht im Eimer" nicht zu sehen ist - sie zeigt ganz deutlich, dass er damals tatsächlich Hitler wüst karikierte.

    Ganz besonders schön zeigt die Schau diese Entwicklung hin zu einer größeren Leichtigkeit anhand der beiden Versionen von "Oberon" - sie hängen sich gegenüber, an beiden Enden einer langen Flucht von ineinander übergehenden Räumen. Aus dem roten Hintergrund der ursprünglichen Version von 1963/64, aus dem geisterhaft vier fast weiße Köpfe heraustreten, ist in dem Remix von 2005 ein eher luftiges Schwarz geworden. Die Schwere des Originals ist verschwunden. "Ich bin kein Anfänger mehr", hat Baselitz gesagt, "vielleicht ist meine Kunst an ihrem Ende angelangt." Der letzte Raum zeigt, dass er unrecht hat: seine Kunst ist keineswegs am Ende angelangt.