Freitag, 26. April 2024

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Lyotard und wir

Der französische Philosoph Jacques Derrida hat schon einige Nachrufe über seine Geistesverwandten geschrieben. Einer der letzten verfaßte er 1995, nach dem Selbstmord von Gilles Deleuze. In dem bewegenden Artikel für die Tageszeitung "Libératon" heißt es:

Klaus Englert | 05.03.2003
    Nach dem Tod von Barthes und Althusser, Foucault und Deleuze (...) kommt es mir vor, als müsse ich ganz allein herumirren.

    Als auch Jean-François Lyotard im April 1998 starb, wurde Derrida erneut von "Libération" um einen Nachruf gebeten. Er schrieb nun:

    Jean François Lyotard bleibt einer meiner engsten Freunde, vorausgesetzt diese Worte behalten noch ihren Sinn. Er wird in meinem Herzen und in meinem Denken gewesen sein.

    Die nach dem Tod des Freundes geschriebenen Zeilen leiten über zu einem kürzlich im Merve-Verlag erschienenen Vortrag mit dem Titel Lyotard und wir. Beide Publikationen beschäftigen sich mit Lyotards Hauptwerk Der Widerstreit, einem äußerst komplexen Œuvre, das auch eine philosophische Reflexion des Nationalsozialismus darstellt. Im Nachruf von 1998 schrieb Derrida:

    'Auschwitz' wird die Tradition und die Philosophie, sein Bezeugen und die Zeugenschaft erschüttert haben. In diesem Bereich wagte sich Lyotard mit einem Mut und einer Unabhängigkeit vorwärts, die ihresgleichen suchen. Es wird nicht möglich sein, diese Tragödie in der Geschichte unseres Jahrhunderts zu denken, ohne mit ihm zu sprechen, ohne ihn wieder und wieder zu lesen.

    Genau dies unternimmt Derrida in seinem Vortrag Lyotard und wir. Wie bei vielen seiner Bücher sollte man auch hier auf die Verzweigungen achten, die Derridas Texte mit anderen untergründig eingehen. Zwar ist dies nicht unbedingt zum Verständnis des Vortrags notwendig, aber es erweist sich als hilfreich. Und so wird der Leser auf einen weiteren Nachruf verwiesen, den Derrida zwölf Jahre zuvor verfasst hatte. Es handelt sich um Mémoires - in Gedenken an den verstorbenen Freund Paul de Man. Der unmittelbar zurückliegende Verlust hinterläßt in den Texten von 1986 und 1998 seine Spuren. Auch in Lyotard und wir stehen Tod und Trauer im Mittelpunkt der Ausführungen. Sie sind zentral für Derridas Philosophie, der es um die Dekonstruktion jeglicher Formen von Präsenz geht, etwa in Gestalt des mit sich identischen Selbstbewußtseins. Denn bevor es diese Gestalt überhaupt geben kann, wird sie durch anderes bearbeitet, wird sie von anderem bewohnt. Durch einen anderen, der in einem selbst wohnt, obwohl er nicht mehr präsent ist. Nach Derrida ist dies das Prinzip der Trauer: Kein In-sich-Abschließen des Ich, sondern beständige Aufnahme des anderen. Man könnte auch sagen - dies ist das Wesen menschlicher Existenz.

    Derrida versucht nun in Lyotard und wir das Jenseits von Tod und Trauer auszuloten. Nicht im Sinne religiösen Glaubens, sondern in der Tradition Adornos. So heißt es in der Negativen Dialektik über Auschwitz:

    Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.

    Der eigentliche Skandal ist dieses "schlimmer als": ein Tod schlimmer als der Tod, ohne mögliche Trauer, weil ohne mögliche Zeugenschaft. Lyotard hat sich zu dieser neuen Form des Todes geäußert. Sie liege darin, den Tod absolut zu machen, so daß keine Spuren zurückbleiben:

    Es sollte eine ‚Endlösung' sein, die ‚Judenfrage' ein für allemal beantwortet werden. Man durfte nicht auf halbem Wege stehen bleiben, denn es galt, dem Endlosen, dem Nicht-enden-Wollenden ein Ende zu setzen. Das heißt dem Ende selbst ein Ende zu setzen.

    Es muss also dieser Tod getötet werden, und eben das ist schlimmer als der Tod. Wenn nämlich der Tod vernichtet werden kann, so deshalb, weil es nichts gibt, das man zu Tode bringen könnte. Nicht einmal den Namen der Juden.

    Der Tod ist absolut, wenn mit dem letzten Juden auch die Namen der Juden ausgelöscht sein werden. Wenn schließlich die Möglichkeit der Trauer nicht mehr besteht. Lyotard schrieb in Der Widerstreit, dass das Vernichtungslager Auschwitz nicht nur Millionen von Menschen, sondern auch unzählige Dokumente vernichtete, die das Verbrechen beweisen könnten. Also war das Ausmaß dieses Verbrechens niemals quantifizierbar. Genau dies hatte aber Israel 1961 versucht, als der Eichmann-Prozess zugleich eine Aburteilung der NS-Verbrechen sein sollte. Mit gutem Grund hält Lyotard dies für unmöglich:

    Zwischen der SS und dem Juden gibt es noch nicht einmal Widerstreit, denn es gibt nicht einmal eine gemeinsame Sprache (die eines Gerichtsverfahrens), in dem ein Schaden zumindest formuliert werden könnte. (...) Trotz des Eichmann-Prozesses blieb und bleibt die Wirklichkeit des Unrechts zu ermitteln, und sie kann nicht ermittelt werden, weil das Unrecht eben nicht durch einen Konsensus erwiesen werden kann.

    Wenn der Tod in Auschwitz das Unfassbare, das Unsagbare ist, dann hat dies einen naheliegenden Grund: Das Opfer stirbt keinen normalen Tod, der noch irgendwie Sinn macht. Er stirbt eines absoluten Todes, der nicht nur den Menschen, sondern auch seinen Namen auslöscht. Deshalb, so Derrida, kann es keine Trauer geben. Denn es fehlen die Worte, die in einer Sprache der Trauer ausdrückbar wären. Und dennoch hat Lyotard recht, wenn er sagt, daß "die massenhaft hingerichteten Juden, abwesend, gegenwärtiger als jedes Gegenwärtige sind". Derrida würde dem hinzufügen: Nur in dieser Paradoxie ist der Tod in Auschwitz, der "schlimmer ist als der Tod", zu verstehen. Er bringt unsere herkömmlichen Kategorien durcheinander. Kein gewohntes Bild, keine gewohnte Sprache kann angemessen sein.

    Zum Schluss ein kleiner Epilog: Man sollte von Derridas Vortrag keine grundlegend neuen Erkenntnisse in der Auschwitz-Debatte erwarten. Dafür blieb der Pariser Chefdekonstrukteur allzu sehr im Dialog mit seinem Freund Jean-François stecken. Wünschenswert wären einige Zusatzinformationen der Verleger gewesen - über Ort und Zeitpunkt des Vortrages. Mit der üblichen Kurzbiographie ist es da nicht getan.