Dienstag, 19. März 2024

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Macras' "The Ghosts"
Inszenierung zum poetischen Potenzial der Fremdheit

Eine der Uraufführungen beim "Tanz im August" war "The Ghosts" von Constanza Macras und ihrer Truppe Dorky Park. Darin versucht die in Berlin ansässige argentinische Choreografin eine künstlerische Annäherung an die Volksrepublik China über eine soziale Randgruppe: chinesische Zirkusartisten.

Von Elisabeth Nehring | 04.09.2015
    Eine Prozession weiß gekleideter junger Frauen zieht über die Bühne: Die langen schwarzen Haare hängen ihnen wie Vorhänge vor den Gesichtern, die Köpfe sind nach vorne gebeugt. In den Händen halten sie lange Stangen, auf denen - vollkommen mühelos - sich ständig drehende Teller balanciert werden. Ein passendes Bild gleich zu Beginn, denn es vereint all' das, was uns in der 100-minütigen Tanzperformance ‚Ghosts' begegnen wird: die Melancholie der chinesischen Akrobatinnen, ihre virtuosen Künste und die Tradition chinesischer Geistergeschichten, in denen sich eigentlich körperlose Frauen in der Realität manifestieren und doch wieder aus ihr verschwinden müssen.
    Für 'Ghosts' ist Choreografin Constanza Macras nach China gereist. Dort hat sie nach den Lebensumständen von Zirkusartisten geforscht, die oft genug bereits mit Mitte 20 ‚zum alten Eisen' gehören und von der Gesellschaft ‚ausrangiert' werden. Mitgebracht hat sie allerdings eine kleine Akrobatenfamilie: drei bezaubernde Schwestern, einen schüchternen jungen Mann und den muskelbepackten, bärenstarken Onkel.
    Vor allem die jungen Frauen zwischen 15 und Anfang 20 erzählen uns aus ihrem Leben: von der bitteren Armut mancher Familien, die ihre Kinder in Artistenfamilien geben, weil sie sie nicht selbst ernähren können. Von der Trostlosigkeit jener riesigen Vergnügungsparks, in denen die Akrobaten sich oft selbst überlassen sind, weil sie tagelang auf Publikum warten müssen. Oder auch von der Schwierigkeit, die ältere Schwester zu sein, die bei den Pyramiden immer unten stehen muss, während ihr die Jüngere auf dem Kopf rumturnt.
    Aber davon reden sie natürlich nicht nur, sondern praktizieren es auch. Schlangengleiche Verknotungen von Armen und Beinen, gewagte, übereinandergestapelte Ein-Arm-Handstände, wilde Zirkulation, bei denen die jüngere Schwester an einer Halsschlaufe der Älteren hängt. Oder ein wuchtiger Tisch, den eine Schwester im Liegen und nur mit den Füßen jongliert. Das, was man im Zirkus allenfalls aus der Ferne kennt, kommt hier ganz nah und macht die ungeheuren Kräfte der jungen Körper, aber auch die Brutalität, der sie ausgesetzt sind, ganz deutlich.
    Dabei gelingt Constanza Macras die Kunst, diesen akrobatischen Darbietungen alles Spektakelhafte zu entziehen. Keine atemberaubende Nummernrevue zieht an uns Zuschauern vorbei, stattdessen bekommen die Artistereien im Wechsel mit Erzählungen und auf die Bühne projizierten Ansichten eines bunten, aber auch etwas heruntergerockten Chinas von Heute fast etwas Melancholisches.
    Dass es zugleich ein heiterer Abend ist, liegt vor allem an den drei jungen Chinesinnen, Schwestern, die sich mit großer Selbstverständlichkeit, blitzenden Augen und maliziösem Lächeln durch diese Inszenierung bewegen, die - in ihren besten Momenten - ganz um sie herum gebaut ist. Nur dort, wo Constanza Macras versucht, die Chinesen in zeitgenössische Tanzpartien einzubauen, holpert es arg.
    Politisches wird nicht ganz ausgespart - die staatliche Ein-Kind-Politik; die von der jungen Generation fast vergessenen Ereignisse von 1989; die Aufwertung der Artisten unter Mao Zedong, der aus dem verarmten fahrenden Volk bezahlte Staatskünstler machte, denen ein Fehler als ‚Konterrevolution' ausgelegt werden konnte - das alles wird in einzelnen Erzählungen kurz angerissen, ohne es zu bewerten oder groß zu kommentieren.
    Viel mehr geht es Macras in ihrer überraschend stillen und konzentrierten Inszenierung um das poetische Potenzial der Fremdheit. Dafür werden zum Schluss immer mehr chinesische Geistergeschichten erzählt, in denen stets körperlose Frauen eine prominente Rolle spielen. Und auch die jungen Chinesinnen und das, was sie umtreibt, bleibt uns - bei aller Sympathie - doch fremd. Dass diese Fremdheit nicht exotisiert oder mit Klischees beladen, sondern allenfalls poetisiert wird, ist die große Stärke dieser Inszenierung.