Dienstag, 07. Mai 2024


Madrid: Die Hoffnung zu bleiben

Freitagabend in einer Jugendherberge im Madrider Vorort Leganés. Sozialarbeiterin Iciar Fernández vom "Komitee zur Hilfe für Flüchtlinge" überprüft die Liste der 30 Schwarzafrikaner, die die Polizei gerade von den Kanarischen Inseln nach Madrid geflogen hat. Sie kommen aus Mali, Guinea-Conakry oder Äquatorial-Guinea. Einige blicken ins Leere, andere schauen die junge Frau voller Hoffnung an.

Von Hans Kellner | 01.05.2006
    Iciar bestätigt der Polizei die Ankunft der Männer und verteilt warme Kleidung. Vielmehr kann sie im Moment nicht tun - außer noch auf das spanische Asylrecht aufmerksam zu machen, das es Asylbewerbern verbietet, zu arbeiten. Aber genau dafür hat auch Mammadou, ein kräftiger 28-Jähriger aus Gambia, alle Gefahren auf sich genommen - um in Europa zu arbeiten:

    " Es ist eine sehr schlimme Reise gewesen. In Mauretanien hatten sie nur gesagt: Du musst diesen Kurs halten. Bis nach Teneriffa. Das Wetter war schlecht, wir waren müde. Pausenlos ist Wasser eingedrungen, mit Eimern haben wir es wieder herausgeschöpft. Das ging die ganze Zeit so. "

    Mammadou starrt auf den Tisch, wenn er redet. Fünf Tage hat die Fahrt über den Atlantik gedauert.

    " Ich habe Menschen sterben sehen. Ursprünglich sind wir mit zwei Booten unterwegs gewesen. Unseres hatte keine Schwierigkeiten. Aber das andere ist untergegangen. Wir haben den Leuten nicht helfen können, wir wären selbst gekentert und ertrunken. Die meisten können ja nicht schwimmen. "

    " Diese Erfahrung werde ich nie vergessen. Nie. "

    1000 Euro hat er für die Überfahrt bezahlt, wie jeder der rund 40 Armutsflüchtlinge in dem kleinen mauretanischen Fischerboot. Dazu gab es ein GPS-Navigationssystem, einen Kapitän hatten sie dagegen nicht. "Wie viele wohl einfach auf den Atlantik hinausgefahren sind, ohne auf den Kanaren anzukommen?", fragt er sich.

    " Einige wurden auf dem Atlantik verrückt. Sie redeten wirres Zeugs. Sie wollten Essen einkaufen, oder sich ein Taxi suchen. Wir haben fünf Tage lang einfach nur im Boot gesessen, konnten nicht schlafen, nichts essen, es war schlimm. "

    Einen Tag später lässt sich Mammadou zu einem Spaziergang durch Leganés überreden. Er dachte, er dürfe die Herberge ebenso wenig verlassen wie das Durchgangslager in Teneriffa, in dem er die ersten vier Wochen nach seiner Ankunft eingesperrt war. Aber er hat weder einen Blick für die Stierkampfarena, an der wir vorbeilaufen, noch für den Park. Er denkt an zu Hause, an seine Mutter. Den Tag, als er sie verließ, wird er nie vergessen. Es war der 25. November 2004:

    " Ich bin sehr traurig gewesen. Ich bin einfach losgelaufen. Ich muss mich jetzt um mich selbst kümmern und hier in Europa Geld für meine Familie verdienen und mir mein Leben aufbauen. "

    Vor einer Skulpturengruppe setzt sich Mammadou auf eine Bank. Mehrere Stahlquader sind scheinbar wahllos in den Sand geworfen und mit Drahtseilen verbunden. Mammadou kann sich keinen Reim darauf machen.

    " Ich könnte einem Freund in Gambia nicht dazu raten, den gleichen Weg zu gehen. Ich bin angekommen, aber was aus mir wird, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob ich jemals Papiere bekommen werde, ob ich arbeiten darf. Es ist besser, er bleibt dort, in seiner Armut. "

    Der Wind hat zugenommen, Mammadou zieht sich die Jacke zu, er will zurück in die Herberge. Dort schlagen die Anderen wieder die Zeit vor dem Fernseher tot. Mammadou blickt aus dem Fenster. Er darf jetzt nicht aufgeben, sagt er.

    " Ich bin doch nicht kriminell, ich bin nicht vor der Justiz zu Hause geflohen, ich bin hierher gekommen, um zu arbeiten. Ich muss jetzt sehr stark sein, sehr stark. "

    Dann setzt auch er sich vor den Fernseher. Mammadou wartet auf Montag, da will die Sozialarbeiterin Iciar wiederkommen. Sie werde ein Telefon mitbringen, hat sie angekündigt, und die Afrikaner könnten dann ihre Kontaktpersonen in Spanien anrufen.

    Iciar hat ihr Versprechen gehalten und das Telefon mitgebracht. Fast jeder hat irgendeinen Kontakt in Spanien, Verwandte, Freunde aus dem gleichen Dorf oder Rufnummern, die sie unterwegs von Weggefährten bekommen haben. Mammadous Kontakt lebt in Barcelona. Er kennt ihn nicht. Ein Bekannter aus Gambia hat ihm die Nummer gegeben. Aber er hat Glück, der Mann aus Gambia will ihn aufnehmen. Auch viele andere haben ihre ersten Anlaufstellen im Nordosten Spanien ausfindig gemacht und wollen noch heute los.

    Per U-Bahn geht es zur großen Station für Überlandbusse im Madrider Zentrum. Die Monotonie vom Wochenende ist wie weggeblasen. Iciar besorgt im Busbahnhof die Tickets.

    Mit Cafés, Tortillas und 50 Euro für jeden lässt Iciar die Afrikaner in der Cafetería zurück. Mammadou und die anderen schauen ihr nach. Jetzt sind sie das erste Mal wieder allein auf sich gestellt.

    " Ich weiß, ich bin auf illegale Weise in Spanien eingereist. Es wird sehr, sehr schwer werden, hier die nötigen Papiere zu bekommen. Wenn Du legal einreist, bekommst Du vielleicht auch Papiere. Aber so... "

    Der jüngste in der kleinen Gruppe, ein 21-jähriger aus Mali, der als einziger über die Westsahara auf die Kanaren kam, ist der fröhlichste. Immer wieder ruft er laut "Finito", das einzige spanische Wort, das er kennt. Mammadou ist dagegen weiter ernst. "Ich bin ein Mann, keine Frau, ich werde mich in Barcelona schon zurecht finden", macht er sich Mut. Aber im Grunde hat er Angst.

    " Ich werde jemanden treffen, den ich nicht kenne. Das einzige, was ich von ihm weiß, ist, dass er aus Afrika stammt. Ich weiß nicht, ob er ehrlich ist und wie er mich behandeln wird. Ich weiß noch nicht einmal, ob er mich in Barcelona überhaupt vom Bus abholt, wie er versprochen hat. Wenn er mich eingeladen hätte, wäre das kein Problem. Ich habe Angst. "

    Zwei Stunden müssen sie noch warten, dann fährt der Bus endlich los. Mammadou grüßt durchs Fenster und lächelt unsicher. Die erste Busfahrt in Spanien, in eine ungewisse Zukunft als Illegaler in Europa.