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Maestro

Seit Jahrzehnten gilt er als der perfekte Dirigent schlechthin, als Alleskönner, den nichts überfordert: Lorin Maazel. Bereits mit 30 Jahren dirigierte er als erster US-amerikanischer Dirigent bei den Bayreuther Festspielen - und zwar "Lohengrin".

Von Wolfram Goertz |
    Das ist Igor Strawinskys "Sacre du printemps", und wer je die Partitur vor Augen gehabt hat, der weiß, dass sie den Rhythmus als solchen abschafft und neu erfindet. Hier muss ein Dirigent ausgeruht und abgebrüht sein. Es ist das ideale Stück für Lorin Maazel, hier mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Seit Jahrzehnten gilt er als der perfekte Dirigent schlechthin, als Alleskönner, den nichts überfordert und der nachts um 4 Uhr den "Sacre" auswendig dirigieren könnte und sich dabei womöglich sogar ein wenig langweilt.

    Maazel, der am 6. März 1930 als Amerikaner bei Paris geboren wurde, ist bis heute kein Spezialist – weder für einen bestimmten Komponisten noch für Stile. Gleichsam in amerikanischer Haltung fühlt er sich in allen Sätteln wohl, wobei er das Gegenteil des hemdsärmeligen Cowboys ist. Maazel ist unverkennbar der seriöse Pultstar, der von einem Befehlsstand aus Kommandos erteilt. Seine Internet-Seite heißt denn auch: www.maestromaazel.com. Sieht er sich selbst als demütigen Dirigenten?

    "Mit Demut kann man sehr wenig anfangen. Man muss doch eine bestimmte Aggression entwickeln, im guten Sinne des Wortes. Man muss sich animieren."

    Schon als Schuljunge dirigierte Maazel daheim in den USA große Orchester – und 1941, auf Einladung von Arturo Toscanini, sogar das NBC Orchestra. Außerdem spielte er als Geiger in einem Streichquartett. Nebenbei absolvierte er ein Mathematik- und Philosophie-Studium, lernte mehrere Sprachen und vervollkommnete das Kapellmeisterhandwerk. Übrigens ist er auch ein geistreicher Komponist. Das riecht nach einem turmhohen IQ. Was hat solch ein Multitalent für musikalische Vorbilder?

    "Ich glaube, dass ich von der Technik von Fritz Reiner sehr beeinflusst war. Er war sehr ökonomisch und hat wirklich die Kunst des Dirigierens gemeistert."

    Maazels Karriere startete früh und unaufhaltsam. Mit 30 Jahren dirigierte er als erster US-amerikanischer Dirigent bei den Bayreuther Festspielen, und zwar "Lohengrin"; sechs Jahre später traute man ihm dort den gesamten "Ring des Nibelungen" zu. Zwischenzeitlich war er Chef des RSO Berlin und der dortigen Deutschen Oper geworden; bald übernahm er das Cleveland Orchestra und das Orchestre National de France, wurde Chef der Wiener Staatsoper, Musikdirektor in Pittsburgh und von 1993 bis 2002 Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Danach wechselte er zu den New Yorker Philharmonikern. Das ist ein Leben unter besten Bedingungen

    Und immer wieder nahm Maazel sich Zeit zu komponieren. Diese Sehnsucht nach dem produktiven Urlaub vom Dirigentendasein wurde mit der Zeit immer größer – und trug reife Früchte. So konnte vor fünf Jahren im Londoner Royal Opera House Covent Garden seine Oper "1984" nach der Novelle von George Orwell uraufgeführt werden. Überhaupt ist sein Faible für moderne Musik groß. 2005 oblag ihm die New Yorker Uraufführung von John Adams' Oratorium "On the transmigration of souls", das die Trauer einer ganzen Nation über den Terroranschlag auf die Türme des World Trade Center zum Ausdruck brachte.