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Marjana Gaponenko: Das letzte Rennen
Komisch, skurril, voller unerhörter Begebenheiten

Marjana Gaponenko hat für "Wer ist Martha?" den Adelbert-von-Chamisso-Preis erhalten. Inzwischen ist die Autorin, die einst am Gymnasium in Odessa Deutsch lernte, stolze Besitzerin eines Gestüts in Wien. Und die Pferde sind auch der Hintergrund ihres neuen Romans, der für unsere Rezensentin durchaus zu faszinieren vermag.

Von Lerke von Saalfeld | 29.03.2016
    Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013
    Die Autorin Marjana Gaponenko, Chamisso Preisträgerin 2013 (dpa / picture alliance / Yves Noir)
    "In den letzten Jahren wurde mir bewusst, dass ich das praktische Wissen, dass ich mir auf dem Gebiet der Pferdekommunikation, des Wagenbaus und des Gespannfahrens angeeignet habe, unbedingt in meinen nächsten Roman münden lassen müsste. Das ist jetzt geschehen, und ich bin selbst überrascht, dass die Kutschen und Pferde ein bisschen auf der Strecke geblieben sind und dass es eher teilweise eine lustige Horrorgeschichte geworden ist, für mich zumindest. Diese Kulisse finde ich sehr spannend, Behinderung und Tod, mitten im Luxus, so eine scharfe Suppe habe ich noch nicht zuvor gebraut."
    Scharfe Suppe mit vielen Zutaten
    Die scharfe Suppe, die Marjana Gaponenko angerührt hat, hat viele Ingredienzien: eine alte Pferderennbahn, Pferderassen und Pferdegeschirre, halsbrecherische Kutschfahrten, einen alten polnischen Pferdenarren, Adam Nieć, der mit Kutschpferden sein Alter genießt und sein Sohn Kaspar, für den diese Leidenschaft zum Verhängnis wird. Als Leser fragt man sich immer wieder, in welcher Zeit bewege ich mich, wo ist der Roman angesiedelt. So merkwürdig es klingt, aber die Autorin hat ihren Roman ganz eng an der Realität gebaut:
    "Ich lebe einfach so wie dieser Adam Nieć. Meine Pferde stehen auch auf einer stillgelegten Rennbahn. Ich bin jeden Abend da, schaue den Pferden einfach zu, wie sie grasen. Dieser Adam Nieć, dieser alte Herr, hat meinen alten Traum erfüllt, indem er sich am Rande dieser Rennbahn häuslich niedergelassen hat. Das war wirklich ursprünglich mein Traum. Ich muss zusehen, dass ich möglichst viele Bücher schreibe und möglichst viele Preise gewinne, dass ich mir so eine kleine Rennbahn leisten kann."
    Das war ja auch die Intention von Adam Nieć, er hat gesagt, ich möchte so reich werden, dass ich nicht mehr arbeiten muss, und das ist ihm gelungen. Das heißt, Sie haben nicht nur gelernt Kutsche zu fahren, sondern Sie haben auch einen kleinen Pferdestall?
    "Den miete ich natürlich, das ist ein etwas heruntergekommenes Gebäude mit sehr viel Charme, alles kommt aus dem 19. Jahrhundert, die Atmosphäre prägt mich schon sehr. Ich konnte einfach nicht anders als so ein Buch zu schreiben, das ist so wie aus der Zeit gefallen.. Ich bin wie ich bin, schreibe wie ich kann, anders kann ich eh nicht."
    Zeitgenössisch, aber wie aus einem früheren Jahrhundert
    Der Roman wirkt tatsächlich so, als stamme er aus einem früheren Jahrhundert, aber durch genaue Zeitangaben legt die Autorin fest, alles ereignet sich exakt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ort der Handlung ist eine ehemalige Pferde-Rennbahn am Rande des Wiener Praters, wo Adam mit seinem Sohn Kaspar lebt. Auch die Autorin lebt in Wien. Der Weg dorthin war verschlungen für die aus Odessa stammende und Deutsch schreibende Schriftstellerin Marjana Gaponenko. Als vor vier Jahren ihr Roman "Wer ist Martha?" erschien, da staunte die literarische Welt über dieses junge ungezügelte Temperament, sich mit Lust und Laune der Literatur hinzugeben.
    Die Autorin, Jahrgang 1981, wurde für diesen Roman mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, denn ihre Muttersprache ist Russisch. Mit 14 Jahren begann sie am Gymnasium in Odessa Deutsch zu lernen, mit sechzehn Jahren begann sie literarisch zu schreiben – auf Deutsch, und dieser Sprache ist Marjana Gaponenko bis heute treu geblieben. Nach Aufenthalten in Krakau und Dublin, zog es die Autorin 2006 zunächst nach Mainz, heute ist sie stolze Besitzerin eines kleinen Gestüts in Wien, und das ist auch der Hintergrund ihres neuen Romans "Das letzte Rennen".
    Ein Spiel mit mehreren Bällen
    Der Vater Adam ist ein erfolgreicher Pferdezüchter geworden, der Sohn Kaspar ist ein Nichtsnutz, er genießt den väterlichen Reichtum, aber bekommt nichts auf die Reihe, er bleibt in Abhängigkeit vom Vater. Aber keineswegs wird in diesem Roman der Vater/Sohn-Konflikt in den Mittelpunkt gestellt. Marjana Gaponenko spielt mit mehreren Bällen: der Pferdeleidenschaft, der Unfähigkeit Kaspars, sich einer Frau zu nähern, dem Leben als Privilegierter einer reichen Schicht und am Ende dem Leben als Behinderter. Allerdings hat das nichts zu tun mit der Wiener Gesellschaft, die Familie des Adam Nieć lebt am Rande dieser Bourgeoisie. Als armer polnischer Zuwanderer aus Krakau stammend, muss Adam sich sein Leben im Westen hart erkämpfen, der Sohn Kaspar ist nur noch Profiteur und steht im Mittelpunkt des Romans, er ist der Ich-Erzähler. Am Ende kommt es zu einem verhängnisvollen Vorfall. Vater und Sohn Nieć unternehmen ein Kutschrennen durch die Praterallee, ein Hubschrauber fliegt so tief, dass er die Pferde in Panik versetzt, die Kutsche stürzt, Kaspar gerät unter die Räder. Er wacht wieder auf im Krankenhaus, beide Arme sind amputiert. Wie er damit nach dem ersten Schock fast frohgemut weiter leben kann, eine solche Volte gelingt nur Marjana Gaponenko. "Ich schwanke zwischen Melancholie und Zynismus" hat die Autorin einmal treffend über sich gesagt. In einer Mischung aus schwarzem Humor und feingesponnener Ironie ist ihr Romangeschehen immer rückgekoppelt zum eigenen Leben. Selbst der Kutschunfall ist keine reine Phantasie:
    "Ich zwinge mich, dieser Angst zu stellen"
    "Ich bin ein bisschen wie Kaspar, was diese Angst vor Pferden und Kutschen angeht. Ich zwinge mich meistens, diese Angst zu überwinden, mich dieser Angst zu stellen. Ich habe selbst inzwischen zwei Kutschunfälle erlebt, und ich weiß, wie es sich anfühlt, auf dem Boden zu liegen oder zu rollen und gar nicht stehen zu bleiben. Darum ist diese Szene auch sehr authentisch, nur dass es ein bisschen übertrieben ist, mir wurden bisher auch keine Arme amputiert, aber ich lag schon paar Mal auf dem Boden, hab die Pferde von unten gesehen und den Wagen auch von unten gesehen. Der Kaspar ist im Grunde genommen nichts anderes als mein alter Protagonist Lewadski in meinem letzten Roman "Wer ist Martha". Die unterscheiden sich nur voneinander, indem Kaspar einfach unfähig ist, sein eigenes Schicksal zu gestalten und sein Leben in die Hand zu nehmen. Lewadski hat viel Energie und ist zwar uralt, aber voller Tatendrang. Er steuert einem klaren Ziel zu und zwar seinem eigenen Tod. Kaspar schiebt diesen Gedanken ganz weit nach hinten. Also, es geht wieder mal darum, was man aus der Zeit seines Lebens macht, beziehungsweise nicht macht."
    Komisch, skurril, voller unerhörter Begebenheiten
    Der Vater Adam nimmt sich mit vollem Bewusstsein das Leben; der Sohn Kaspar erhält künstliche Elektroarme, wie sich seine Zukunft gestalten wird, bleibt offen. Marjana Gaponenko webt diesen Stoff mit ungebremster Phantasie; er ist komisch, skurril, ja, auch, voller unerhörter Begebenheiten, das "letzte Rennen" erzählt eine absurde Geschichte trotz aller realen Bezüge zum Leben der Autorin. Dazu gehört auch die Herkunft aus der Ukraine, die im Roman durch die Krankenschwester Nadja verkörpert ist. Sie stammt aus dem Donezbecken, ist zunächst die Krankenschwester für den armamputierten Kaspar und wird dann die Geliebte des Vaters. Die Herkunft aus der Ukraine will die Schriftstellerin nicht verleugnen, im Gegenteil:
    "Bei mir wird es immer so sein, dass ich nie eine klare Position beziehen werde, und die Ukraine wird immer eine Rolle spielen. So lange ich schreibe, wird immer ein ukrainischer Protagonist eine größere oder eine kleinere Rolle haben. Aber ich werde nie Tacheles reden, weil ich noch nicht in dem Alter bin. Und dann muss man auch sagen, dass diese Ereignisse bei uns zu Hause mich sehr aufwühlen und erschüttert haben. Ich kann auch emotional nicht darüber reden, ich bin einfach zu nah dran, es ist alles noch so frisch, es kann noch einiges passieren. Darum ist diese Krankenschwester auch so distanziert. Sie sagt, sie möchte darüber nicht reden. Für Sie, für die Menschen im Westen, ist diese sogenannte Ukraine-Krise ein gefundenes Fressen für eine heitere oder angeregte Diskussion, und für die Menschen in der Ukraine ist es eine Tragödie. Und für mich ist es auch eine Tragödie. Ich hätte nie gedacht, dass die Russen auf die Ukrainer und umgekehrt schießen würden. Vor ein paar Jahren hätte ich darüber gelacht und jemandem den Vogel gezeigt, aber es ist wirklich alles passiert."
    Es endet mit einer Postkarte
    Die letzte Seite des Romans ziert eine Postkarte, abgeschickt aus der Ukraine von der Krankenschwester Nadja. Das Foto belegt, sie hat dort, wohl mit dem geerbten Geld nach dem Tod von Adam, eine Seniorenresidenz aufgebaut; ausgestattet mit einer Station für Pferdetherapie, wie es der Sohn Kaspar sich in Wien ersehnt hatte.
    Irgendwie klingt das alles schräge, voller Rätsel und Unglaubwürdigkeiten. Der Schalk sitzt Marjana Gaponenko im Nacken. Faszinierend an diesem Roman ist jedoch, die Autorin spielt nicht mit ihrem Sujet, ihr ist es bitter ernst:
    "Ich wollte endlich mal einen Antihelden haben, weil ich es nicht mehr ertragen kann, dass einfach jemand ein happy end erleben darf. Ja, Kaspar ist so ein Typ, das ist meine Antwort auf die beiden Bücher, die ich bisher geschrieben habe, wo alles einigermaßen gut endet, also, das passt mir im Moment nicht unbedingt."
    Warum nicht?
    "Ich glaube, das war die sogenannte Ukraine-Krise."
    Marjana Gaponenko: "Das letzte Rennen"
    C.H.Beck, 266 S.