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Martinus Oper "Juliette"
Virtuose Traumbilder

Claus Guth setzt mit seiner Inszenierung von Martinus Oper "Juliette" auf die Psychologie. Er begreift die surreale Handlung des Stückes als einen Horror-Trip in den Dschungel eines traumatisierten Unbewussten - und bietet eine fesselnde und bis ins Details brillant umgesetzte Deutung.

Von Julia Spinola | 29.05.2016
    Martinus Musik katapultiert den Hörer in einen Strudel von Déjà-Vues, aus denen er so schnell nicht wieder herausfindet. Was wirbelt da nicht alles an einem vorbei: eine rhythmische Obsession aus Strawinskys "Frühlingsopfer", Jazzrhythmen und Filmmusikfetzen, der Duft von Debussys "Pelleas" und die Aufsässigkeiten von Janáčeks "schlauem Füchslein", romantische Hornrufe und surreale Echowirkungen.
    Daniel Barenboim schärft mit der Staatskapelle Berlin all die bunten Splitter dieser kaleidoskopischen Zauberpartitur, lässt ihre Farben schillern und hält die Traumbilder virtuos im Fluss. Die Musik jagt voran, ohne doch irgendwo anzukommen. Oder sie dreht sich wie ein übermütiges Kind manisch um sich selbst, bleibt plötzlich stehen und verfällt in einen Schwindelzustand.
    Die letzten Takte der Oper führen nahtlos wieder zurück an ihren Anfang. Ein bisschen fühlt sich das an, als wäre man dreieinhalb Stunden lang der surrealen Unendlichkeitsspirale einer Zeichnung von Maurits Cornelis Escher gefolgt: treppauf, treppab. Und so geht es ja auch dem Protagonisten Michel Lepic, der sich auf der Suche nach der Unbekannten in einem Traum verheddert. Oder ist sein ganzes Leben nur ein Traum, aus dem es kein Entrinnen gibt?
    Rolando Villazón kämpft sich todesmutig durch die Monsterpartie des Michel. Was er an Klangschönheit schuldig bleibt, macht er mit darstellerischem Furor wieder wett. Sein Michel ist eine getriebene, großartig zwischen grotesker Tragik, Verzweiflung und Slapstick changierende Chaplin-Figur. Man wusste bislang noch nicht, was für ein virtuoses komödiantisches Talent in Villazón steckt.
    Dschungel eines traumatisierten Unbewussten
    Claus Guth ist der Psychologe unter den Opernregisseuren und so deutet er die surreale Handlung des Stückes als einen Horror-Trip in den Dschungel eines traumatisierten Unbewussten. One way, sozusagen, denn am Ende steht der blanke Wahnsinn. Das Trauma, das Michel um den Preis seines Verstandes verdrängen muss, besteht im Mord an der Geliebten.
    Gleich am Anfang sehen wir, wie er panisch eine Pistole wegwirft und mit einem kleinen Koffer fliehen will. Die Bühne zeigt ein enges weißes Zimmer mit Wänden voller unheimlicher Luken, Türen und Schubladen, durch die das Verdrängte verlässlich in allerlei Gestalten wiederkehrt. Am Ende des ersten Akts liegen wie an einem Tatort ein blutverschmiertes Taschentuch, Juliettes roter Schal, ihr Kleid und ihr rotes Köfferchen wie nummerierte Beweisstücke herum.
    Den zweiten Akt, in dem Michel Juliette im Stück tatsächlich erschießt, deutet Guth als Rückblende auf das Geschehen des Vortags. Magdalena Kožená als Juliette ist eine perfekt künstliche, leicht barbiemäßig verzickte Traumfrau, mit geliehenen Gesten, ein konditioniertes Wunscherfüllungsobjekt wie von der Stange. Stimmlich aber betört sie mit ihren melisandenhaften, irisierenden Mezzofarben.
    Bei Martinů spielt der dritte Akt in einem kafkaesken "Zentralbüro der Träume". In Claus Guths Inszenierung brechen in dieser Schaltzentrale des Unbewussten alle Identitätskonzepte Michels endgültig zusammen. Der Raum, der dem Irrsinn noch Halt bieten könnte, ist aufgebrochen. Michel irrt schwarz umnachtet als Psychotiker über die Bühne und wird von üppigen Bühnennebelschwaden umwogt, in denen er zu ertrinken droht, wie Tschaikowskys Prinz Siegfried in den Fluten des Schwanensees. Das weiß gezimmerte Ich der ersten beiden Akte mit seinen Luken und Öffnungen taucht noch einmal klein am Bühnenhorizont auf. Bewohnt wird es nun von einem Doppelgänger. Zum Teufel mit der Identität.
    Guths Inszenierung bietet eine fesselnde und bis ins Details brillant umgesetzte Deutung. Ob man die surrealistische Handlung unbedingt ins Psychologische wenden muss, ist eine andere Frage.