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Marx wiederentdeckt

Jahrelang war er verpönt und wurde von modernen Denkern hierzulande missachtet: Karl Marx. In anderen Ländern sieht das anders aus: In Brasilien oder Indien denkt man wieder offen über seine Lehren nach. Und auch hierzulande bekommt er vor dem Hintergrund der Finanzkrise neuen Wind.

Von Jochen Stöckmann | 04.09.2013
    Ob Karl Marx, der Philosoph und Ökonom, der politisch agierende Publizist und neugierig-wachsame Journalist ein klassischer Autor und damit eine feste Größe der Ideengeschichte ist, über diese Frage war man hierzulande uneins: Manch einer sah die Chance, mit dem Verschwinden des Marxismus als staatlicher Ideologie nach 1989 auch Marx selbst einfach ad acta zu legen. Die internationale Gemeinschaft dachte da schon immer etwas anders, wie jetzt auf einer Tagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Joachim-Felix Leonhard, Vorsitzender des deutschen Nominierungskomitees, die UNESCO-Entscheidung zur Aufnahme des Kommunistischen Manifests in das Weltkulturerbe kommentierte:

    "Diese Gretchenfrage in der Diskussion um Marx wurde nunmehr gleichsam objektiv, nämlich durch die Weltgemeinschaft entschieden. Marx wird aus der Ecke eines historisch gescheiterten Marxismus geholt und dort verortet, wo er hingehört: nämlich in die Kontexte der politischen und der sozialen Emanzipationsbewegungen, die er maßgeblich und mit globaler Wirkmächtigkeit beeinflusst hat."

    Es herrscht in Sachen Marx ein Nord-Süd-Gefälle. Aus Brasilien etwa berichtet der Sozialforscher Marcel van der Linden, dass zehntausende von Studenten sich in Marx-Lesegruppen zusammenfinden und immerhin vier Jahre auf diese Kapital-Schulung verwenden. Der Wirtschaftswissenschaftler Birger Priddat, für den Marx der "größte deutsche Ökonom" ist, lenkte den Blick auf ferne, aber im Zeitalter der Globalisierung doch eigentlich längst nicht mehr fremde Weltgegenden:

    "In Indien wird marxistisch argumentiert im Rahmen von development theory – Entwicklungstheorie, da gibt es eine Menge indischer Ökonomen, die Marxisten sind. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt wissen, dass sieben Bundesstaaten Indiens marxistisch regiert werden."

    Wohlgemerkt: marxistisch. Nicht kommunistisch? So nämlich pflegt der Marx-Kenner jene Regimes zu nennen, in denen eine kritische Theorie umstandslos "materialisiert", also von einer Nomenklatura brachial in die politische Praxis umgesetzt wurde. Solche Art von Parteikader debattierte an diesem Abend nicht mit, wie überhaupt kein Politiker dabei war. Stattdessen tauschten Wissenschaftler ihre Argumente aus, erfrischend unakademisch und ohne parteipolitische Vorurteile. Birger Priddat von der Privatuniversität Witten/Herdecke:

    "Und selbst wenn einer nichts mit dem Marxismus zu tun hat, muss er dem Mann einen ungeheuren Respekt erweisen, weil er ein letztes Mal einen großen gesellschaftlichen, philosophisch-ökonomischen Zusammenhang entwickelt hat. Das hat nach ihm niemand mehr gemacht. Dass es nicht ganz gelungen ist, dass er es selber auch abbrechen musste, weil er es nicht selbst vollenden konnte – das ist ein anderes Thema."

    Aber ein wichtiges Thema: Dem fatalen, im Wortsinne "totalitären" Anspruch, dass im "Kapital" oder den "Grundrissen" ein allumfassendes Welterklärungsmodell verborgen sei, begegnet Michael Quante mit dem Verweis auf die in Berlin edierte kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe. Auch mit Erstsemstern, die Karl Marx schon einmal für einen "russischen Ökonomen" halten, diskutiert der Münsteraner Philosophieprofessor:

    "Und dann auch bitte mit den kritischen Texten, die wir Gott sei Dank vorliegen haben. Um zu sehen, dass ganz vieles davon eben ‚work in progress‘ war, wo schon der Text selber signalisiert: Hier musst Du selber weiterdenken! Das ist keine ausgefeilte, fertige Gesamttheorie, sondern das ist eine Art Werkzeugkasten."

    Dieses Instrumentarium hat in England, im Umkreis der London School of Economics, den "historical materialism" hervorgebracht, eine sozialwissenschaftliche Richtung, die nicht nur eine florierende Zeitschrift gleichen Namens herausgibt, sondern auch eine längst renommierte Buchreihe, die außerdem jährlich viel beachtete Tagungen veranstaltet. Inspiriert werden die Wissenschaftler, wie Marcel van der Linden aus Amsterdam beobachtet, von sozialen Bewegungen wie Occupy, in deren Bibel wie dem "Schulden"-Buch von David Graeber der Name Marx kein einziges Mal vorkommt, wo niemand etwas gibt auf Leute, die stets das passende Zitat aus dem "Kapital" parat haben:

    "Diese neue Marxologie, die wächst und wächst zur Zeit. Was mir nun aber auffällt in den sozialen Bewegungen: Viele haben Sympathie für Marx, einige Kernbegriffe werden aufgenommen, zum Beispiel ‚Ausbeutung‘, ‚Klassengesellschaft‘ – aber trotz dieser Entwicklung wissen viele wenig von Marx."

    Das muss nicht von Nachteil sein. Denn solche Widersprüche im wirklichen Leben können die neuen, die "Post-Marxisten" – ganz in der klassischen Manier ihres Vordenkers - aufnehmen – als Impuls für die Wissenschaft. Für Harald Bluhm, den Projektleiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe, sind es diese Spannungen, die nicht nur die Forschung voranbringen:

    "Die Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, das ist glaube ich, was die Bewegungen interessiert. Wenn wir einmal zurückdenken: 150. Jahrestag des Manifests der Kommunistischen Partei, Richard Rorty schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darüber und er sagt: Was können wir von dem Manifest noch lernen, was ist dran an dem Marx? Wir können lernen, dass die Zukunft ganz anders sein kann als die Gegenwart."
    Portrait von Karl Marx, aufgenommen in einer Ausstellung in Trier
    Portrait von Karl Marx, aufgenommen in einer Ausstellung in Trier (AP Archiv)