Archiv

Matthias Nawrat
"Stehen an der Schwelle zur postkapitalistischen Gesellschaft"

Matthias Nawrat zeichnet in seinem Buch "Unternehmer" eine post-apokalyptische Vision der kapitalistischen Gesellschaft. Erzählt wird die Geschichte einer Familie, in dem sich schon die Kinder dem Unternehmertum widmen.

Von Lerke von Saalfeld | 22.07.2014
    Wenn ein Roman den Titel §Unternehmer" trägt, denn entsteht zuerst einmal die Vermutung, wir tauchen ein in die knallharte Welt des Business, vielleicht ein Enthüllungsroman mit Thrilling-Effekt. Aber was Matthias Nawrat uns in seinem zweiten Roman anbietet, ist ein sehr befremdliches, reales und surreales Ambiente einer Unternehmerfamilie auf einem Bauernhof im Schwarzwald. Schon in seinem ersten Roman stand der Schwarzwald als Kulisse hinter dem Geschehen, aber es war eine Landschaft, die voller Zauber und Anmut war. Diesmal ist der Schwarzwald eher eine drohende Kulisse, gezeichnet von Niedergang und Zerstörung:
    "Die Poesie kommt jetzt nicht aus der Landschaft, sondern die Poesie kommt aus der Gegenwehr gegen die tote Dingwelt, also die sprachliche Poesie kommt aus dem Bedürfnis, etwas, was tot daliegt, zu beleben durch Sprache. Ich hab beim Schreiben des ersten Romans "Wir zwei allein" immer das Gefühl gehabt, ich hab das Bedürfnis, dieses Schöne, was ich im Schwarzwald sehe, auch irgendwann einmal wieder zu zerstören, weil ich finde, der Schwarzwald hat beide Seiten, er hat diese schönen Seiten, aber er hat auch diese dunklen, düsteren Täler, diese Häuser, die unglaublich tiefe Decken haben, wo der Mief von vor 50 Jahren noch drinsteckt. Es gibt auch Fabriken, die verlassen sind, das ist alles vorhanden. Ich glaube, wenn man sich mit einer Landschaft beschäftigt, sollte man das alles Sehen, ja, in Betracht ziehen."
    Hommage an die Literatur der Post-Apokalypsen
    In diese Landschaft stellt Nawrat seine Unternehmerfamilie: Der Vater, der Chef des Ganzen, treibt seine beiden Kinder an - Lipa 13 Jahre alt und Sohn Berti noch jünger - mit ihm gemeinsam in einem alten Mercedes durch die Gegend zu fahren und in verfallenen Werksanlagen und toten Fabrikgeländen nach seltenen Erden, kostbaren Metallen und wertvollen Spurenelementen zu suche, die für Handy-Platinen oder Computerprozessoren recycelt werden können. Abgeliefert wird das Material im "Paradies", beim Händler auf dem Schrottplatz. Dort gibt es dann das "Klimpergeld", wie es im Roman heißt, von dem die Familie lebt. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive der Tochter Lipa, die mit vollem Eifer das väterliche Geschäft unterstützt und als seine Assistentin keine Mühen scheut, dem Vater und dem Unternehmen zu Diensten zu stehen. Von Anfang an liegt etwas Unheimliches über dieser Szenerie, als ob ein Super-GAU über diese Landschaft hinweggefegt wäre und auch die Menschen wie geklonte Wesen verändert hätte. Matthias Nawrat erklärt dazu:
    "Es ist eine Art Post-Apokalypse-Vision und gleichzeitig habe ich mich sehr bemüht, im Unklaren zu lassen, was passiert ist, weil ich denke, dass ich im Prinzip mit dieser Hommage an die Literatur der Post-Apokalypsen und der postkapitalistischen Gesellschaft wollte ich andeuten, dass wir im Prinzip schon heute an der Schwelle zu so etwas leben, und ich habe mich bewusst dagegen entschieden zu sagen, wann das genau spielt, sondern hab immer nur diese literarischen Rahmenbezüge benutzt, um das Gefühl zu vermitteln, ja es könnte im Prinzip auch schon heute sein. Wenn wir zum Beispiel nach Indien schauen, dann ist das schon Realität, dass Väter ihre Kinder auf Schwefelfelder schicken, um Müll einzusammeln, und diese Kinder atmen giftige Dämpfe ein. Meine Vision ist nicht unbedingt unrealistisch, ich hab's bewusst im Schwarzwald angesiedelt, um zu zeigen, wir stehen schon an der Schwelle zu dieser postkapitalistischen Gesellschaftsform."
    Unternehmerkinder wirken bizarr
    Berti, der eifrige Sohn hat durch die gefährliche Sammeltätigkeit von Metallen bereits einen Arm verloren; als es zur Konfrontation mit einer rivalisierenden Familie kommt, verliert Berti durch deren brutalen Sprengstoffeinsatz auch noch beide Beine. Ihm scheint das alles nichts auszumachen. Seine Schwester Lipa ermahnt ihn, "das Unternehmertum ist für Leute, die Schmerzen ertragen können" und Berti gehorcht, er atmet durch, bedient die Gangschaltung des Autos und fährt wieder nach vorne - mithilfe seiner Beinprothesen. So endet der Roman. Als Leser bleibt man ein wenig ratlos ob dieser grausigen Perspektiven von Unternehmertum, dem sich schon Kinder bedingungslos verschreiben. Der Vater erkrankt gegen Ende des Romans, er wird schwach und müde, vielleicht weiß er darum, dass er seine Kinder ihrer Kindheit beraubt hat. Plötzlich bekommen sie Freizeit, was früher nie erlaubt war, aber die Kinder machen auch ohne den Vater weiter, wie Roboter. Lipa, die eine zarte Freundschaft mit Lange-Nase-Timo angeknüpft hat, mit ihm sogar fliehen wollte, gibt diese Pläne auf und lässt Timo allein in das Land hinter den Vogesen ziehen. Diese Kinder wirken bizarr, fremdartig, aber der Autor sieht sie ganz anders:
    "Diese zwei Kinder, Berti und Lipa, sind moderne Kinderhelden. Sie sind insofern Helden, indem sie das alles ertragen. Der Held ist ja derjenige, der an seinem Schicksal scheitert. Diese Kinder scheitern ja auch, nur die scheitern sogar mit einem Lächeln auf den Lippen und in dem Glauben, dass sie eigentlich gewinnen."
    Matthias Nawrat will die Unternehmer-Rhetorik entlarven, die sich sogar schon bei den Kindern tief eingegraben hat, er will auch ihre Visionen entzaubern. Die Unternehmerfamilie träumt davon, wenn sie genug "Klimpergeld" verdient hat, dann wollen sie nach Neuseeland auswandern. Schnell wird deutlich, diese Vision wird sich nie erfüllen, sie ist unerreichbar.
    Abstruse Geschehen dieser Unternehmerfamilie
    Sprachlich geschliffen entwirft der Autor eine Welt, in der sich nur schwer zurechtfinden lässt, denn irgendwie ist alles verdreht, mal ernst, mal komisch, mal absurd, mal metaphorisch, mal Parabelhaft. Sogar Momente des Märchens, die natürlich gut in den Schwarzwald passen, huschen durch das abstruse Geschehen dieser Unternehmerfamilie und setzen zusätzliche verwirrende Akzente. Matthias Nawrat meint trotz der verborgenen Komik alles ganz ernst, und, er hat ein eigenwilliges Credo als Schriftsteller, er will den Leser bewusst provozieren:
    "Mich hat es auch selbst beim Schreiben befremdet, ich habe diese Befremdung auch immer versucht auf die Spitze zu treiben, auszuprobieren, wie weit kann ich gehen, sodass ich immer noch das Gefühl habe, ja ich kenne das, worüber ich hier schreibe, aus meinem eigenen Leben, aber dass die Skurrilität auf die Spitze getrieben wird, weil ich finde einfach, Literatur muss befremden. Literatur die nicht befremdet oder irgendwie vor den Kopf stößt, das ist für mich selber beim Lesen nicht unbedingt interessant. Zum Beispiel wird Kafka immer aktuell bleiben, für immer wahrscheinlich, weil Kafka wird nie restlos verstanden werden. Er hat immer irgendetwas in seinen Texten, das unauflösbar ist. Wenn man das schafft beim Schreiben, ich suche immer nach diesem Gefühl beim Schreiben, und wenn ich das finde, dann versuche ich das festzuhalten. Das hat in diesem Fall dazu geführt, dass es so eine Skurrilität hat und ich persönlich bin damit sehr zufrieden und ich bin auch sehr zufrieden, wenn Leute sagen, sie sind vor den Kopf gestoßen und wenn Leute sagen, ja, irgendwie kenne ich das von irgendwoher und gleichzeitig, habe ich oft gedacht, was ist das jetzt genau. Das ist eben wie so ein merkwürdiger Stein, aus dem irgendetwas rausleuchtet, der halb glitzernd, halb undurchsichtig ist, zwar fest, aber, man weiß nicht, was im Kern ist, aber man ahnt es vielleicht schon aufgrund der Oberflächenbeschaffenheit. Und so wollte ich diesen Text haben. Wenn mir jemand sagt, dass er befremdet war, dann ist das eher eine Bestätigung, dass ich es geschafft habe."
    Matthias Nawrat: Unternehmer, Rowohlt Verlag, 137 S., 16,95 €