Archiv

Mecklenburg-Vorpommern
"Ein Teil der Wähler ist schwierig einzuschätzen"

Die meisten Menschen in Mecklenburg-Vorpommern seien zwar mit ihrer eigenen Situation verhältnismäßig zufrieden, sagte der Rostocker Politikwissenschaftler Christian Nestler im DLF. Die AfD profitiere aber davon, dass es in den Medien Themen gebe, die unabhängig von der Realität in dem Bundesland seien.

Christian Nestler im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 03.09.2016
    Blick auf das Schweriner Schloss vor wolkenverhangenem Himmel
    Wird die AfD ins Schweriner Schloss einziehen? (dpa/picture alliance/Jens Büttner)
    Jürgen Zurheide: Berlin in 14 Tagen und morgen in Mecklenburg-Vorpommern – was passiert da gerade? Wir haben ja mehrere Wahlumfragen gehört: Die Regierungskoalition wird möglicherweise keine Mehrheit mehr haben, ansonsten wird die AfD gewinnen. Das sind die Kurzvorhersagen, die wir bisher haben. Über all das wollen wir reden, was dort in diesem nordöstlichen Bundesland passiert, und bereden wollen wir das mit Christian Nestler von der Universität Rostock, und ihn begrüße ich erst mal am Telefon. Guten Morgen, Herr Nestler!
    Christian Nestler: Schönen guten Morgen!
    Zurheide: Fangen wir zunächst mal an mit Mecklenburg-Vorpommern – ich glaube, das ist nicht böse, wenn ich jetzt frage, das Land ist ja nicht so bekannt, und wenn ich es jetzt in der Kurzfassung sage: landschaftlich reizvoll, aber wirtschaftlich eher schwach, eine Menge Einwohner verloren, früher mal zwei Millionen, jetzt nur noch 1,6 Millionen. Was habe ich vergessen?
    Nestler: Das sind schon die wichtigen Punkte. Mecklenburg-Vorpommern, unendliche Weiten natürlich, aber was wichtig zu betonen ist, seit etwa 2004 kann man auch hier beobachten, dass die Arbeitslosigkeit sukzessive zurückgeht, und in den letzten, ich glaube, ein, zwei Jahren hatten wir auch wieder einen Wanderungsgewinn.
    Zurheide: Kommen wir auf das – Sie haben es jetzt gerade schon angesprochen –, was eigentlich in den letzten 25 Jahren, also nach der Wende, passiert ist. Kann man das noch etwas präziser zusammenfassen?
    "Tourismuswirtschaft ist sukzessive angesiedelt worden"
    Nestler: Nach der Wende und dem Zusammenschluss der drei Nordbezirke in das Land Mecklenburg-Vorpommern gab es Transformationen bedingt zunächst durch einen starken Rückgang der Beschäftigung, Abwanderung – das haben Sie selber gesagt – und der CDU-Regierung, und dann ab '98 mit der SPD/Linke-Regierung, dann SPD/CDU-Regierung ist sukzessive Tourismuswirtschaft angesiedelt worden, die Werftenstandorte wurden erhalten, und das hatte dann durchaus auch positive Auswirkung.
    Zurheide: Christian Nestler, Universität Rostock – Herr Nestler, wir waren gerade dabei zu sagen, was sich eben in den letzten 25 Jahren verändert hat. Sie hatten gesagt, ja, im Tourismus hat sich einiges bewegt, und inzwischen kommen auch wieder mehr Menschen. Jetzt sind Sie dran, bitte schön.
    Nestler: Genau, dazu kann man noch ergänzen, dass die Landesregierungen auch versucht haben, sukzessive also zumindest Werftenstandorte zu erhalten, was sich immer als große Herausforderung erwiesen hat und auch darüber hinaus eine gezielte Industrieansiedlungspolitik zu betreiben.
    Zurheide: Kommen wir auf das, was für die Menschen jetzt bei der Wahl wichtig ist. Das, was wir gerade besprochen haben – so ist zumindest meine Beobachtung hier aus der Distanz, aus der westlichen Sicht –, spielt das eigentlich weniger eine Rolle. Ist das richtig oder falsch beobachtet?
    "Ein Teil der Wählerinnen und Wählern ist schwierig einzuschätzen"
    Nestler: Das ist gleichzeitig richtig und falsch beobachtet. Die Umfragen im Land sagen uns, dass die Menschen an sich mit ihrer eigenen Situation verhältnismäßig zufrieden sind, um nicht zu sagen sehr zufrieden sind, aber gleichzeitig haben wir auch vor dem Hintergrund 2011 einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung von 51,5 Prozent einen Teil von Wählerinnen und Wählern, die schwierig einzuschätzen sind und die jetzt offensichtlich ihren Unmut auch an die Wahlurne tragen.
    Zurheide: Und Unmut, da wissen wir alle, was damit gemeint ist, das sind die möglicherweise hohen Ergebnisse der AfD, ohne da jetzt zu viel drüber zu reden – manchmal machen wir das wahrscheinlich auch falsch –, da scheint ja das beherrschende Thema zu sein, wird die AfD vielleicht sogar vor der CDU liegen. Wie ist das zu erklären?
    Nestler: Also die Möglichkeit besteht. Wir haben hier ein bisschen den Effekt, den wir auch in Sachsen-Anhalt hatten, eine verhältnismäßig starke AfD, die eben genau dieses Überthema, was eigentlich seit einem Jahr auch medial beherrschend ist – Geflüchtete, Zuwanderung, Integration –, für sich nutzt, aber dahinter halt sehr viel breitere Themenfacetten präsentiert und halt viele Leute anspricht.
    Zurheide: Die AfD, so lese ich es auch, hat ein Stück weit die Linke als Protestpartei abgelöst – ist das eine richtige Beobachtung?
    "Die mediale Präsenz ist unabhängig von der Realität in dem Bundesland"
    Nestler: Das kann man zumindest nach den Umfragen so sagen. Also Wählerinnen und Wähler, die bis 2013 noch verstärkt zur Linken aus Protest gegangen sind, scheinen jetzt eher zur AfD zu tendieren.
    Zurheide: Wie ist eigentlich zu erklären, dass in einem Land, wo der Ausländeranteil, ich glaube, unter zwei Prozent liegt, also so niedrig wie in keinem anderen Bundesland, dass dieses Metathema so wichtig ist? Als Politikwissenschaftler, haben Sie da eine Erklärung für?
    Nestler: Ein Großteil davon hat einfach damit zu tun, dass die mediale Präsenz, und damit meine ich sowohl klassische Medien, aber natürlich auch das Internet, eben Geflüchtete und Zuwanderung jeden Tag ins Wohnzimmer und an den Bildschirm bringen und damit die Präsenz unabhängig von der Realität in dem Bundesland eben dann doch da ist.
    Zurheide: Und die CDU scheint in diesem Fall ganz besonders zu leiden. Es ist ja eigentlich das Heimatland von Angela Merkel, die ist kein Zugpferd im Moment. Ist das so?
    "Die SPD-Kampagne war an der hohen Beliebtheit von Herrn Sellering ausgerichtet"
    Nestler: Das kann man so sagen. Das hat aber auch was damit zu tun, dass der CDU-Landesverband unter dem Spitzenkandidaten Lorenz Caffier sich auch Anfang des Jahres und dem Wahlkampf durchaus kritisch mit der Position von Frau Merkel auseinandergesetzt hat und dementsprechend Frau Merkel vielleicht als Zugpferd dann auch nur bedingt geeignet war.
    Zurheide: Jetzt haben wir über die SPD noch gar nicht gesprochen. Der Ministerpräsident ist ja selbst ein Zuwanderer, aber er scheint es ein Stück weit zu ziehen. Es gab schlechtere Umfragewerte: Inzwischen liegt die SPD wieder vorne, schwächer als vorher, aber sie liegt deutlich vorne. Ist das so ähnlich wie in Rheinland-Pfalz – auf den letzten Metern macht es dann der Kandidat, in Rheinland-Pfalz war es die Kandidatin, hier ist es dann möglicherweise der Kandidat?
    Nestler: Das kann man so sehen. Was man vor allem beobachten kann, ist, dass auf einer hohen persönlichen Beliebtheit von Herrn Sellering auch die SPD-Kampagne ausgerichtet war, also quasi maximale Personalisierung für Herrn Sellering, und das scheint zu fruchten, und dazu hat man in den überregionalen Medien ja durchaus auch eine ambivalente Flüchtlingsposition von Herrn Sellering gehört.
    Zurheide: Das waren Eindrücke vor der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern vom Politikwissenschaftler Christian Nestler der Universität Rostock. Herr Nestler, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.