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Meditation im Eis

Ein Motorschlitten, ein bärtiger Norweger, viel Schnee und Alkohol, tief stehende Sonne und der Himmel zum Greifen nah: Das ist "Nord", der erste Kinospielfilm von Rune Denstad Langlo, eine filmische Novelle über einen traurigen Mann, seine misslungene Vergangenheit, seine aussichtslose Gegenwart und seine hoffnungsfrohere Zukunft.

Von Josef Schnelle |
    Jomar leidet an Panik-Attacken und ist so antriebsschwach, dass er es nicht mal schafft, den Ski-Lift in Betrieb zu setzen. In besseren Tagen ist er ein erfolgreicher Ski-Profi gewesen. Eine ungewöhnliche Neuigkeit reißt ihn aus der Lethargie. Er erfährt, dass er einen vierjährigen Sohn hat, ganz hoch im Norden. Und so bricht er zu einer weiten Reise auf - mit seinem Schneemobil und fünf Litern selbst gebranntem Schnaps als Reiseproviant. So fangen Roadmovies an, Filme von der Reise zu sich selbst, die das Kino immer in Bewegung gehalten haben. Motorräder oder Wohnwagen, offene Cabrios oder klaustrophobische Überlandbusse. Man kann eigentlich mit allem unterwegs sein, was Räder hat oder Kufen. In David Lynchs "Eine wahre Geschichte" macht sich Alvin Straight sogar mit dem Rasenmäher auf die weite Reise zum neuen Ich. Da ist ein Schneebob gar nicht so ungewöhnlich - jedenfalls hoch im Norden von Norwegen, dort wo der Schnee nie schmilzt und man vor lauter weißer Pracht auch Mal erblinden kann. Lange macht das gebeutelte Schneefahrzeug die strapaziöse Reise nämlich nicht mit. Jomar landet bei dem jungen Ulrik im Graben. Es gibt zunächst kein Weiterkommen. Und die Aussichten auf eine bessere Zukunft sind auch begrenzt. Deshalb landen die beiden bald bei der wichtigsten aller Fragen - jedenfalls in Norwegen.

    Die folgende kuriose Szene, in der die geschrumpften Alkoholvorräte durch eine originelle Methode zu einem maximalen Rauscherfolg genutzt werden, mag diejenige sein, die Besucher dieses Films am Liebsten weitererzählen. Ein in Alkohol getränkter Tampon wird über die Glatze ins Hirn gerieben. Das mag glauben oder probieren, wer will. Der erste Spielfilm des ehemaligen Dokumentarfilmers Rune Denstad Langlo ist jedoch zweifellos ein rundherum gelungenes Beispiel für den lakonischen Humor der düsteren Nordländer. Aus Norwegen kommen schon seit Jahren die verwegensten Komödien mit schrägen Typen und Außenseitern der besonderen Art. Offenbar scheint das Land, das bis zum Polarkreis reicht, dafür prädestiniert, die philosophische Weisheit in der skurrilen Lebensart sichtbar zu machen. Jomar hat scheinbar keine Chance. Wie soll er sie also nutzen. Die Reise ist das Ziel, und bevor Jomar seinen Sohn doch noch findet, landet er bei einem Schamanen, der sein Tipi auf dem Eis aufgeschlagen hat. Er hat sich dort niedergelassen zum Sterben, was er auf besonders originelle Weise auch hinbekommt. Vorher aber wird er von seiner Tochter besucht, der Jomar nicht geheuer ist.

    Jomar verlässt das Zelt des Alten als geläuterter Mensch und endlich mit einem klaren Lebensziel. Wenn man "Nord" anschaut, dann knistert die Luft, ganz so als wäre die Klarheit der Gedanken am Polarkreis einfacher herstellbar, als im sonnigen Süden. Der lakonische Humor des Films, der zu einem großen Teil mit Laien realisiert worden ist, wärmt sogar jedes Zynikerherz. Und die eisige Schönheit der Bildwelt dieses Films über die ewige Suche nach Identität und Selbstgewissheit ist derart betörend, dass man gleich nachschauen möchte, ob der Schneebob im Stall noch funktioniert. Norwegen ist überall. Man muss sich nur auf den Weg machen.