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Mediziner vermuten 1,4 Millionen Tote als Tschernobyl-Folge

Hat Tschernobyl 4000 Todesopfer gefordert, wie offiziell angegeben, oder sogar Hunderttausende? Tenor der Tagung der Gesellschaft für Strahlenschutz war: Das wahre Ausmaß der Katastrophe wird von internationalen Gremien vertuscht.

Von Philip Banse | 07.04.2011
    Natürlich war Japan ein Thema. Sebastian Pflugbeil, der Präsident der sehr atomkritischen Gesellschaft für Strahlenschutz, wies daraufhin, dass in Tschernobyl de radioaktive Wolke durch die Hitze des Feuers im Reaktor sehr hoch stieg und sich so über Europa verteilte:
    "Das wird in Japan anders sein. Dort brennt es nicht, es wird aber frei werden und der ganze radioaktive Dreck wird über Japan wieder runter kommen, vielleicht in einem Radius von 300 bis 500 Kilometern und dort auf eine viel, viel höhere Bevölkerungsdichte treffen als es in Tschernobyl der Fall war, so dass ich befürchte, dass der gesundheitliche Schaden in Japan en von Tschernobyl noch um etliches übertrifft, aber es wird anders aussehen."

    Wie groß aber sind die Schäden 25 Jahre nach Tschernobyl? Das ist sehr umstritten Das Wissenschaftliche Komitee der UNO zur Erforschung der Effekte von radioaktiver Strahlung hat noch im Februar dieses Jahres festgestellt: Im Fall Tschernobyl gebe es "keine Beweise, dass gesundheitliche Schäden radioaktiver Strahlenbelastung zugeschrieben werden können". Auf der Tagung präsentierte die Gesellschaft für Strahlenschutz dagegen eine erschreckende Bilanz: Bis heute seien an den Folgen des Tschernobyl GAUs 1,4 Millionen Menschen gestorben. Bis heute seien nur zehn Prozent der genetischen Schäden sichtbar, das dicke Ende komme noch, so der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz:

    "Es gibt keine offizielle Statistik. Das ist das Problem. Die offiziellen Stellen haben auch kein Interesse daran, die zu machen. Und die internationalen Stellen haben schon gar kein Interesse, solche Zahlen zu ermitteln. Also muss man sich Hilfskonstruktionen überlegen, um solche Schätzungen machen zu können."

    Auf der Tagung wurden verschiedene Untersuchungen präsentiert, die versuchen, sich dem wahren Schaden zu nähern. Geladen waren vor allem Wissenschaftler aus den drei betroffen Ländern Russland, Weißrussland und Ukraine. Andriy Noshchenko aus Kiew legte dar:

    "Bei Kindern, die zum Zeitpunkt des Unfalls zwischen null und fünf Jahren alt waren, ist das Leukämierisiko in den ersten elf Jahren nach dem GAU deutlich erhöht."

    Vor dem Unfall seien 80 Prozent der Kinder in den betroffenen Ländern gesund geboren worden, nach dem Unfall seien nur noch 20 Prozent der Kinder ohne Schäden auf die Welt gekommen. Tenor der Tagung war: Das wahre Ausmaß der Katastrophe wird von internationalen Gremien vertuscht und heruntergespielt. Angelina Nyagu aus der Ukraine sagte, es gebe eine Fülle internationaler Studien zu den Tschernobyl-Folgen:

    "Aber diese Resultate werden ignoriert, das schmerzt uns sehr, denn das ist unser Problem, unser Leben."

    Der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, beschuldigte vor allem die wissenschaftliche Strahlen-Kommission der UNO:

    "Der erste Schlag ins Gesicht ist, dass sie feststellen, es gibt praktisch keine überzeugenden Belege für gesundheitliche Schäden der Bevölkerung in der Tschernobylregion. Und der zweite Schlag ist: Wir werden dem auch nicht weiter nachgehen. Punkt. Und das geht so nicht."

    Pflugbeil kritisierte die Macht vor allem die Internationale Strahlenschutzkommission ICRP:

    ""Das ist praktisch ein eingetragener Verein, wo sich die Mitglieder selber ihre Nachfolger suchen. Die haben keinerlei wissenschaftliche Legitimation, keinerlei demokratische Legitimation. Aber dummerweise richten sich alle Staaten der Welt in ihren Strahlenschutzbestimmungen nach den Aussagen dieser Leute. Das ist eine Handvoll Leute, die das Schicksal der Weltbevölkerung massiv beeinflusst, dadurch, dass sie immer wieder versuchen, die neuen Erkenntnisse im Bereich Strahlenforschung runter zu diskutieren, unangenehme Erkenntnisse beiseite zu schaffen und sie haben eine für mich völlig unverständliche Macht.""

    Die Internationale Strahlenschutzkommission mit Sitz in Kanada hat auf eine Anfrage per Mail nicht reagiert - was aber an der Zeitverschiebung liegen kann.

    Mehr zum Thema auf dradio.de:

    Sammelportal "Katastrophen in Japan"