Dienstag, 07. Mai 2024

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Mein Westfälischer Frieden

Die bequeme Rede von der "sächsischen Dichterschule" hat sehr unterschiedliche Autoren in einem Erlebnisraum zusammengesperrt. Auf Dauer lieferten weder die mitteldeutsche Herkunft noch der biologische Zufall, derselben Generation zuzugehören, plausible Begründungen für diese Einordnung in der germanistischen Schublade. Das Leben in der diktatorisch verfaßten DDR erzwang Solidaritäten unter grundverschiedenen Leuten. Wulf Kirsten, Karl Mickel, Sarah Kirsch, Rainer Kirsch, Richard Leising, Volker Braun und Heinz Czechowski einer Dichtergruppe, zuzurechnen, hätte zur Bedingung, von charakteristischen Eigenheiten abzusehen. Nicht einmal ein erdachtes poetisches Manifest könnte sie vereinen.

Manfred Jäger | 17.03.1999
    Von Heinz Czechowski ließe sich sagen, er arbeite ohne Netz und doppelten Boden, wäre er ein Artist, der das Publikum mit diversen Geschicklichkeiten zu verblüffen suchte. Den Glauben an die Kraft des Fortschritts und an den Sinn der Geschichte hat er schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Als er in tiefe persönliche Lebenskrisen stürzte, konnten ihn weder ein philosophisches Fundament stützen noch eine kräftige lyrische Sprechweise, eine Manier, auffangen. Mit Recht wurde er dafür gerühmt, daß seine Texte auf genauer Beobachtung fußen, die Details aber die existentiellen Erfahrungen zu beglaubigen haben.

    Der neue Band mit zumeist wieder freirhythmischen und freistrophigen Gedichten aus den Jahren 1996 bis 1998 zeigt ganz ungeschützt einen empfindlichen, verletzlichen und verzweifelten Dichter, der keinen Widerstand dagegen leistet, daß der Leser nur autobiographische Zeugnisse vorzufinden glaubt. Der Titel "Mein Westfälischer Frieden" verweist oberflächlich auf die Erinnerung an das Ende des Dreißigjährigen Krieges, das im vorigen Jahr so ausgiebig gefeiert worden ist.

    Das Gedicht gleichen Namens wiederholt seine Überzeugung, daß die Geschichte uns wenig übrigläßt. In diesem Fall hat sich vor den Gleichheitstraum längst die Sensation von der Vielweiberei der Wiedertäufer geschoben. Czechowskis westfälischer Frieden bleibt bedrohlich, unheimlich, kalt. Den Sachsen hat es ins Westfälische verschlagen: Nach einem durch ein Stipendium finanzierten Studienaufenthalt im Künstlerdorf Schöppingen ist er in dem Nest nahe Münster hängengeblieben. Aber eine Wahlheimat kann die feuchte, flache Gegend kaum genannt werden. Er spricht mehrfach von "westfälisch Sibirien", in der Nähe liegt ein riesiges Schlachthaus, von dem an heißen Sommertagen der Gestank der Schweinekadaver herüberweht. Dem Verzweifelten ist es gleichgültig, wo er lebt. Die Landschaft der Wasserburgen, Adelspaläste und Parks bleibt ihm fremd, aber er fühlt sich hier immerhin der sächsischen Dichterschule entronnen. Spaziergänge empfindet er als unwirklich, begegnet er adligen Damen, sieht er sich wie in grellen Fellini-Filmen, die Gesichter sind ihm trocken und hart wie westfälischer Korn. Die Droste läßt gelegentlich grüßen, sie fand wie er keinen Frieden, vernebelte Wiesen, ständiges Grau, verschlossene Friedhöfe: "in den Kneipen versammeln sich jetzt die Kadaver".

    Daß Czechowski überhaupt noch schreibt, das ist sein Versuch, sich noch eine Frist zu gönnen, sich wenigstens eine Rettung auf Zeit zu suggerieren. Das Denken kreist um die Dreiheit von Liebe, Krankheit und Tod. Er fühlt sich unerlöst und ohne Aussicht, längst zugrundegerichtet, er nennt sich einen mürrischen alten Kauz, es erreichen ihn nur noch Hiobsbotschaften. Der Dichter zelebriert seine Einsamkeit und wundert sich darüber, daß er noch lebt. Um den Tag zu bestehen, versuche er sich ein Gebäude aus Lügen zu bauen: "der Selbsttrost / Ist noch immer gebührenfrei, alles andere / Kostet mich / Zopf und Kragen."

    Wo Czechowski so im ironischen Wortspiel Distanz gewinnt, setzt er der in die Texte hineinflutenden Wehleidigkeit zum Glück öfters Grenzen, obwohl er nichts dabei findet, die Trivialität seiner Sprache mit der Alltäglichkeit seiner Situation zu rechtfertigen. Der Typus des Gelegenheitsgedichts verknüpft Kunst und Leben immer dann auf prekäre Weise, wenn der Schreibvorgang zur Selbsttherapie taugen soll. "Meine Biographie: Eine Krücke, / An die ich mich halte, / Um aufrecht zu gehn."

    Der Band trägt die Widmung "Meinen alten und neuen Freunden, und vor allem denen, die schon tot sind und es nur noch nicht wissen." Vielleicht erschreckte den Autor der arrogante Sarkasmus so sehr, daß er sich selbst in der Mitte des Buches deutlich ermahnte: "Mach es dir nicht zu einfach, verfolge / Nicht deine Freunde, die / Hoch gestiegen oder / Abgestürzt sind. Du selbst / Bist einer von ihnen!"

    So ist der Leser Zeuge der Selbstgespräche und Selbstvergewisserungen eines Dichters, der von seinen traumatischen Verstörungen nicht loskommen kann. Auch hier wird wieder das im Feuer der Bomben versinkende Dresden, das Urerlebnis des Neunjährigen vom Februar 1945, imaginiert, und ebenso die Verstörung, daß der beste Freund der Stasi alles brühwarm berichtete, einschließlich der nächtlich-trunkenen Kneipengespräche. Verglichen mit Czechowskis düsteren Texten, wirken Günter Kunerts skeptische Befunde wie Bekundungen eines trotz allem fröhlichen Menschen. Aber Heinz Czechowski wehrt sich auch noch immer gegen die Versuchung aufzugeben: Einen der letzten Texte des Bandes hat er sich noch einmal vorgenommen und bearbeitet. Unter dem Titel "Sauerländische Elegie" findet er sich, erweitert und konzentriert, im Heft 1 des Jahrgangs 1999 von "Sinn und Form".