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"Meine Kindheit, das ist der Krieg"

Algerien - das heißt 50 Jahre nach der Entlassung in die Unabhängigkeit für Frankreich: Eine junge Generation in den Betontürmen der Vorstädte , die sich nicht integriert fühlt. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung infolge des Algerienkriegs ist wach, die Vorkommnisse aber immer noch nicht aufgearbeitet.

Von Ursula Welter | 03.07.2012
    Algier 1958. Die Menge singt die Marseillaise und jubelt Charles de Gaulle zu.

    "Ich habe Euch verstanden!"

    Aber was hatte de Gaulle verstanden? Was waren seine Pläne in Algerien, für Algerien, für Frankreich?

    "Es ist bis heute ein umstrittenes Thema, ob de Gaulles Absichten von vorneherein klar waren, oder ob er sie geändert hat mit der Zeit."

    1954. Die algerische Befreiungsfront FLN hat die Oberhand behalten in Kämpfen mit anderen nationalistischen Kräften, ein Attentat am 1. November leitet den entscheidenden Aufstand gegen die Kolonialherrschaft ein. Es sollte ein "vielfacher Bürgerkrieg" werden. Der Soziologe Gérard Gabert:

    "Denn dieser Krieg, der bis 2000, bis zu einem Beschluss des französischen Parlaments, nicht Krieg genannt werden durfte, war eben ein Krieg unter Algeriern, unter Franzosen, unter verschiedenen Bevölkerungs- und Interessengruppen."

    Ein Krieg aller gegen alle. In Frankreich. Denn Algerien, die einstige Kolonie ist zu diesem Zeitpunkt französisches Staatsgebiet. Bis heute sind die Wunden nicht verheilt.

    "Meine Kindheit, das ist der Krieg."

    "Ich bin zeitgleich mit dem geboren, was man später den Algerienkrieg nannte, was aber zunächst nicht so hieß ..."

    Les evenements" – die Ereignisse nannte man das blutige Geschehen jenseits des Mittelmeers, im algerischen Teil Frankreichs. Bis heute sitzt die Umschreibung fest in den Köpfen vieler Franzosen. Ein "Krieg", das hätte "Krieg" in Frankreich geheißen. Erst 40 Jahre später wird der Terminus in den offiziellen französischen Sprachgebrauch übernommen.

    "Ich kann mich nicht an entspannte, ruhige Eltern erinnern. Ich bin mit dem Krieg geboren und habe Algerien mit dem Ende des Krieges verlassen, das waren die ersten sieben Jahre meines Lebens."

    Eine Lehrerin in Südfrankreich, Bandol am Mittelmeer. Selbstbewusstes Auftreten, blonde Haare, fester Blick. Dennoch: Es fällt ihr schwer, über Algerien zu sprechen.

    "Ich habe Zeit gebraucht, bis ich zugeben konnte, dass ich ein pied noir bin, ich habe mich geschämt."

    Die Pieds Noirs, die Schwarzfüße. Eine der Gruppierungen in Frankreich, die bis heute die Schmerzen des Algerienkrieges spürt.

    "Über die Herkunft des Begriffs gibt es bis heute eine große Unsicherheit. Denn unter Schwarzfüßen wurden die Europäer kategorisiert, die in Algerien lebten, wobei die meisten dieser Europäer keine Franzosen waren."

    Spanier, Italiener, Malteser, die Frankreich gezielt im 19. Jahrhundert in Algerien angesiedelt hatte. Die einstige Kolonie Algerien, das spätere französische Staatsgebiet, Heimat für "Franzosen", die keine französische Vergangenheit hatten, das Mutterland häufig nicht einmal kannten.

    "Die sich als Franzosen fühlten, aber als pieds noirs, als besondere Kategorie und die auch diese Idee, diese Erinnerung an die Pionierzeit hatten, die das Gefühl hatten, das Land aufgebaut zu haben."

    Die Siedler hatten die besseren, die fruchtbaren Landstriche bekommen, die einheimische Bevölkerung Algeriens hatte vom 19. Jahrhundert an weichen müssen. Auch diese Rechnung wollte die Befreiungsbewegung FLN begleichen.

    "Es hat keine Reformen gegeben, zehn Millionen Moslems waren nichts verglichen mit einer Million, ja wie soll ich sagen, Algerier-Franzosen ."

    Alfred Großer, der Politologe, sieht den Kern des Krieges, der bis heute in Frankreich nicht recht aufgearbeitet ist, auch im sozialen Gefälle Algeriens.

    Die französische Verwaltung sortierte die einheimische Bevölkerung in die Kategorie "muslimische Franzosen" ein, Staatsbürger zweiter Klasse ohne Wahlrecht für die Institutionen des Mutterlandes. Daneben die sogenannten Europäer. Zwei Gruppen, die miteinander lebten und doch getrennt waren.

    "Es gibt viele Franzosen, die ein völlig friedliches Leben geführt haben, inmitten von Arabern."

    "Man lebte in guter Eintracht zusammen. Mein Vater sprach arabisch, mit seinen Arbeitern, meine Mutter kümmerte sich um deren Kinder, gab Kleidung, aber es war eine Form der Bevormundung."
    "In der Realität waren die Lebensumstände für die muslimische Bevölkerung schlechter, weniger gut entwickelt, als für die europäische Bevölkerung, das ist sicher."

    Als die Attentate zahlreicher wurden, der Krieg vom Land in die Städte getragen wurde, wird aus der guten Eintracht, über die noch heute viele Algerienfranzosen sprechen, Misstrauen:

    "Mein Vater hatte im Haus einen Raum ohne Fenster geschaffen. Da schliefen wir alle vier. Mein Vater wachte die ganze Nacht, das kleinste Geräusch schreckte uns alle hoch, wenn mein Buch vom Bett fiel; er hatte sich eine Waffe zugelegt, wir lebten in ständiger Angst."

    Die Menschen in Algerien geraten zwischen alle Fronten. Die algerische Befreiungsfront FLN kämpft gegen Frankreich in Algerien; Frankreich stockt die Truppen auf, schickt selbst unvorbereitete Rekruten über das Mittelmeer, zur "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung".

    "Meine liebe Mutter, beunruhige Dich nicht: der Kapitän hat es klar gesagt, wir gehen dahin, um die öffentliche Ordnung herzustellen, nicht um Kopf und Kragen zu riskieren!"

    "Die meisten von ihnen sind traumatisiert zurückgekommen."

    Die Soldaten von einst sprechen nicht darüber. Nach dem Krieg beginnt das große Schweigen, in vielen Familien hält es bis heute an. Das Trauma und eine gescheiterte Erinnerungspolitik wirken nach.

    "Nach dem offiziellen Ende des Krieges war die offizielle Regierungspolitik: Jetzt Schweigen und Vergessen."

    Ein Amnestiegesetz tut sein Übriges. So können die Wunden nicht heilen. Was hatten die Soldaten gesehen? Was hatten sie getan? Viele wurden zur Folter gezwungen oder mussten systematischen Folterungen beiwohnen. Erst allmählich beginnen Film und Literatur, die Soldatengeschichten des Algerienkrieges zu schreiben, die Aufarbeitung steckt in den Anfängen.

    Fernsehsendungen widmen sich heute den vielen Fragen des Algerienkrieges, den dunklen Seiten der französischen Geschichte.

    Einer Geschichte, die nahezu jede französische Familie betroffen hat: Algerien, der Krieg, der Verlust der einstigen Kolonie, die undurchsichtige Taktik de Gaulles, die Vertreibung, die Umsiedlung, all das ist Gesprächsstoff auch nach 50 Jahren.

    "Sie sehen, heute rede ich darüber, aber ich habe Zeit gebraucht, viel Zeit. Es ist hart, ich sage es unter Tränen. Es ist hart, wir waren nichts, für die Leute waren wir keine Franzosen, ich hatte keine Freundinnen, ich war so allein."

    1962. Nach den Jahren der blutigen Kämpfe wird am Genfer See der Waffenstillstand besiegelt, am 3. Juli 1962 wird Algerien in die Unabhängigkeit entlassen. "Evian", für viele Algerien-Franzosen steht der Name bis heute für den "Verrat" durch de Gaulle.

    "Im April 1962, kurz nach den Abkommen von Evian wurde bei uns eingebrochen, während wir bei meinem Opa waren, ich musste die Schule verlassen."

    Die Straßen werden zum Schlachtfeld. Die Übergriffe der einheimischen auf die europäische Bevölkerung nehmen zu. Franzosen kämpfen gegen Franzosen, auf dass Algerien französisch bleibt.

    "März, April 62, da war der Terror immer gegenwärtig, immer!"

    "Und dann ist alles anders geworden, als es ausgemacht war. Die Franzosen, die Nicht-Moslems sollten bleiben, sie mussten fliehen."

    "Wir sind mit dem Nötigsten geflohen, einem Koffer, aber nichts Persönlichem, keine Bilder, alles zurückgelassen."

    Auf die Panik des Aufbruchs in Algerien folgt im Mutterland Frankreich offene Ablehnung:

    "Das Gros der Bevölkerung empfing sie nicht mit offenen Armen, das muss man ehrlich sagen. Die französische Bevölkerung war diesen Krieg satt. Man wollte an diesen Krieg nicht mehr erinnert werden. Es sollte ein neues Kapitel kommen und für viele Franzosen waren die pieds noirs, die Vertriebenen, Schuld, man betrachtete sie als mitschuldig. Vor allem wegen der OAS, die in den letzten Jahren des Krieges auch den Krieg nach Frankreich gebracht hatte, mit zahlreichen Bombenanschlägen."

    Die Terrorakte der Geheimorganisation OAS, mit der französische Siedler die Zugehörigkeit Algeriens zu Frankreich retten wollen.

    "Die Version, die wir Algerienfranzosen kannten hieß: Der Terror, das ist der FLN. Wir kannten die andere Fassung nicht, klar, wir hörten von der OAS, aber wie gewalttätig die waren, das habe ich erst viele Jahre später gelernt, damals dachte ich: die OAS, das sind die Guten!"

    Der Staat verteilt die Ankömmlinge, baut vor allem im Süden Siedlungen, bis heute bevölkern die Algerienfranzosen von einst dort die Boule-Plätze am Mittelmeer:

    "Ja wir sind 1962 gekommen. Ja die Erinnerung ist wach, selbst, wenn die Jahre dahingehen, die Erinnerung daran bleibt lebendig!"

    "Mensch ich habe damals in Algerien in einem Araberviertel gewohnt, wir hatten NIEMALS, wirklich NIEMALS Probleme miteinander ..."

    "Ich denke, de Gaulle hat erwartet, dass mehr Menschen bleiben werden und sich irgendwie arrangieren."

    Die Rechnung des Generals geht nicht auf. Als Frankreich Algerien in die Unabhängigkeit entlässt, am 3. Juli 1962 ist ein Großteil der sogenannten Europäer bereits geflohen, de Gaulle steht als Verräter da.

    "Und das bringt in Südfrankreich Marine Le Pen heute noch Hunderttausende Stimmen."

    "Die Art und Weise, wie vor allem Linke, die Sozialisten, die Flüchtlinge hier empfangen haben, mit ihren Koffern, die war widerwärtig, niederträchtig ..."

    ... schimpft die Chefin des rechtsextremen Front National.

    " ... und wie man die Harki behandelt hat, das ist eine wahre Schande."

    Die Harkis. Noch eine große Verlierergruppe des Algerienkrieges.

    "Die Harkis, die sich in den Dienst Frankreichs gestellt hatten – da wurden systematisch Massaker ausgeübt an ihnen und ihre Enkelkinder sitzen teilweise noch heute in Lagern."

    Einheimische, die an der Seite der französischen Armee gekämpft hatten, gegen die algerische Befreiungsbewegung. Als der Waffenstillstand besiegelt ist, sind sie Freiwild. Das französische Militär hat Befehl, die Harkis zu entwaffnen.

    "Einige konnten sich hinüberretten. Es gab auch Offiziere, die sie entgegen der Befehle, die sie erhalten hatten, nach Frankreich hinüberretteten. Aber eine ganze Menge – wie viele genau wird man wahrscheinlich nie wissen – wurden in Algerien zurückgelassen und faktisch dem Tode übergeben, denn sehr viele wurden dann massakriert, ermordet, als Kollaborateure. Diejenigen, die nach Frankreich kamen, wurden ganz anders behandelt als die Pieds Noirs, für sie gab es keine Siedlungen, für sie gab es keine Jobs, sondern man sperrte sie in Lager ein, möglichst fern von Städten, von Dörfern – am liebsten mitten in den Wäldern und unter Führung französischer Offiziere."

    "Es gab viel Verrat in Anführungsstrichen durch den Staat Frankreich der es nicht geschafft hat, zurechtzukommen mit den Harki, den Millionen Moslems, den Millionen Pieds Noirs, der es dann nicht geschafft hat , die Geschichte aufzuarbeiten, zu sagen, was das Militär getan hat, aber für uns Erwachsenen von heute ist es vor allem das: Wir sind nach Frankreich gekommen und waren NICHTS!"

    Sicher, heute könne sie darüber reden, tue das auch als Lehrerin, heute habe sie keine Angst mehr zu sagen, dass sie in Algerien geboren wurde. Aber die Aufarbeitung des Algerienkrieges in Frankreich komme zu langsam voran:

    "Man spricht über Fakten, aber nicht über Gefühle, erlittenes Leid. Erst im nächsten Jahr soll ein Geschichtsschulbuch erscheinen, das auch Augenzeugen zu Wort kommen lässt."

    Die Geschichten von Leid, Verantwortung, Schuld sind so unterschiedlich, dass keine gemeinsame Ebene gefunden werden kann.

    "Das ist bis jetzt in Frankreich nicht möglich, das ist in Algerien nicht möglich. Und das ist zwischen Frankreich und Algerien umso schwieriger, solche Arbeit zu leisten, wie sie zwischen Frankreich und Deutschland geleistet wurde."

    Die offenen Wunden des Krieges belasten auch das bilaterale Verhältnis Frankreichs zu Algerien, beide Länder gehen da auf sehr dünnem Eis, sagt Hans Stark vom sicherheitspolitischen Forschungsinstitut IFRI in Paris, und nicht nur die Erinnerung und Wiedergutmachung für die Pieds Noirs und die Harkis sei heute das Thema der französischen Gesellschaft:

    "Viel, viel wichtiger ist heute die Frage, wie stehen wir zu unseren algerischen Einwanderern? Wie können wir dafür sorgen, dass sie in der französischen Gesellschaft ankommen, dass sie Positionen in der Politik, in der Wirtschaft übernehmen können, dass sie nicht ausgegrenzt werden in den Banlieus, im Departement von Saint-Denis, im 93 ... "

    Algerien – das kann innerhalb Frankreichs heute vielerlei bedeuten: Großväter, die Befreiungskämpfer gegen die französische Herrschaft waren, und die dann dennoch ins ungeliebte Frankreich fliehen mussten, als sich nach der Unabhängigkeit im Juli 1963 die algerischen Freischärler gegenseitig bekämpften.

    "Was eine paradoxe Situation ist, die dazu führte, dass auch unter den Algeriern, die in Frankreich leben und Kinder geboren haben, auch ein großes Schweigen herrschte."

    Algerien – das heißt heute auch die zweite, dritte Generation der Einwanderer.

    "Wie stehen die jungen Algerier, die in Frankreich geboren worden sind, die die französische Nationalität haben heute, wie stehen die zur französischen Nation und zu ihrer Herkunftsnation, diese Dinge sind wichtig heute?"

    Algerien – das wirkt bis heute auch im Bewusstsein nach: Die Einordnung der Bevölkerung in "Muslime" und "Nicht-Muslime" von einst, hat den Beamtenapparat auch im Mutterland geprägt.

    "Diese Gleichstellung Islam, Muslime, Einwanderer – ist ein Produkt dieser Zeit. Denn man nannte die einheimischen Algerier francais musulmans, die muslimischen Franzosen."

    Algerien – das heißt 50 Jahre nach der Entlassung in die Unabhängigkeit für Frankreich: Eine junge Generation in den Betontürmen der Vorstädte , die sich nicht integriert fühlt; das heißt in den Siedlungen der Pieds-Noirs und der Harkis eine wache Erinnerung an Flucht und Vertreibung und das ist ein verblassender Traum vom Leben jenseits des Mittelmeeres.
    Die meisten sind nie wieder hingefahren, haben ihren Geburtsort nie wiedergesehen.

    "Nein, nein – ich träume davon, aber ich weiß nicht ob es hilft, oder nicht, ich habe Erinnerungen an meine Kindheit und weiß nicht, was geschieht, wenn ich sie mit der Realität konfrontiere."

    "Nein nie. Ich war nie wieder da, aber Algerien, das fehlt mir immer noch."
    Algier 1962: Einweihung eines Ehrenmals für den Kampf der FLN
    Algier 1962: Einweihung eines Ehrenmals für den Kampf der FLN (dpa / picture alliance)