Als Erwin Mortier gefragt wurde, welches Tabu er im 21. Jahrhundert gern wieder einführen würde, meinte er: die Sünde, und schrieb dazu eine Erzählung, mit der er sehr erfolgreich durch Flandern tourte. Ist er etwa ein altmodischer Romantiker? Nein. Er geht entwaffnend offen von sich aus, und das mit einer Art zu schreiben, die leicht und feinsinnig ist. Belgien ist noch immer sehr katholisch und angesichts rechtsradikaler Wahlerfolge in Flandern bleibt die eigene Vergangenheit auf der Tagesordnung. Diese Ordnung will der Junge in dem Roman für sich persönlich verändern:
Das Wichtigste an dem Roman ist nicht: was ist tatsächlich damals passiert, sondern die Scham, das Verhüllen und die ganzen unausgegorenen Gefühle bei dem späteren Umgang damit. Für den Jungen ist die Sprache schließlich ein Mittel, die belastete Vergangenheit einzugrenzen, sie symbolisch zu begraben und sich davon zu befreien.
Marcel ist ein reiches Buch an Zwischentönen, die sich in die Unscheinbarkeit des Dorfes und der Familie mischen. Die unausgegorenen Gefühle werden spürbar und leben als Missverständnisse fort: Der Junge hört etwas von einem deutschen 'Überscharführer' - doch außer im flämischen Missverständnis der deutschen Sprache, hat es nie einen 'Überscharführer' gegeben. Das Bild der Vergangenheit hat immer weniger mit ihrer Wirklichkeit zu tun. Der Junge ahnt, wie es sich verselbständigt. Und dieser Richtung kann er nicht folgen, will er zu sich selbst kommen und kein Anhängsel der Geschichte anderer werden. Erwin Mortier erzählt mir ruhigem Pulsschlag von dieser Selbstfindung - und zeigt, wieviel Leben darin steckt.