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Mensch und Arbeit
"Wir binden alles an Lohnarbeit"

Anerkennung, Position, Sozialversicherung - alles sei an Lohnarbeit gekoppelt, sagte der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Dlf. Trotz der hohen Produktivität sei es heute die größte Sorge der Menschen, arbeitslos zu sein. Bei den Rahmenbedingungen unserer Arbeitsorganisation sei offensichtlich etwas schief gelaufen.

Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Michael Köhler | 17.09.2017
    Der Philosoph Konrad Paul Liessmann
    Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagt: "Obwohl wir in der produktivsten Gesellschaft aller Zeiten leben, merken wir irgendwo nichts von dieser Entlastung. Es ist doch paradox." (dpa / picture-alliance / Erwin Elsner)
    Michael Köhler: Seit Adam und Eva aus dem Paradies geworfen wurden, müssen wir uns um uns selber kümmern. Mit dem Rauswurf aus dem Paradies kamen Arbeit und Geschichte in die Welt. Sie ist Quelle von Fortschritt, Geschichte und Weiterentwicklung. Wenn wir heute von Arbeit sprechen, meinen wir zumeist Erwerbsarbeit. Sie steht erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit hoch im Kurs. Wohlstand, Wert und Würde des Menschen werden spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts an die Arbeit geknüpft.
    Dabei gibt es auch ehrenamtliche Arbeit und Sozialarbeit. Oft sprechen wir auch von "Trauer-Arbeit" und "Beziehungs-Arbeit". Selbst im Schlaf, wenn wir nicht arbeiten, leisten wir "Traum-Arbeit". Abwesenheit von Arbeit scheint kaum vorstellbar. Und das in Zeiten, da die industrielle Arbeit in den entwickelten Staaten der westlichen Welt weniger wird. Eine Studie des AOK Bundesverbandes hat gerade den Arbeitsausfall durch psychische Krankheiten ermittelt. Er sei um 80 Prozent gestiegen.
    "Eine völlig neue Bewertung von Arbeit"
    Dabei zeigen die Fantasien vom Schlaraffenland, dass eine Welt ohne Hunger, Kummer und Arbeit vorstellbar ist. Und sei es nur im Märchen. Mit dem Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann habe ich über den Menschen als arbeitendes Wesen gesprochen und ihn gefragt, warum die Arbeit in der Moderne so eine emphatische Aufladung erfahren hat, die wir nicht mehr loswerden.
    Konrad Paul Liessmann: Ob wir ihn nicht loswerden, weiß ich nicht, denn er ist eigentlich wirklich sehr jung. Er kommt eigentlich erst so richtig zur Geltung seit dem 18. Jahrhundert, mit einem Vorspiel, wenn man der These von Max Weber trauen will, in der protestantischen Ethik, wo der Arbeitsbegriff zum ersten Mal starkgemacht wurde, und hat meines Erachtens sehr, sehr viel mit der Industrialisierung zu tun, das heißt mit der völlig neuen Organisation von Arbeit und dadurch auch mit einer völlig neuen Bewertung von Arbeit. Dahinter steckt natürlich zweierlei: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, im Zuge der Industrialisierung flächendeckend Arbeit neu zu organisieren und Arbeitskräfte in ganz anderer Art und Weise zu rekrutieren und einzusetzen, als das in einer agrarischen Gesellschaft der Fall war, wo Arbeit gleichsam was Naturwüchsiges war, eingebettet in den Rhythmus der Jahreszeiten, der Erntezeiten, der Sähzeiten und dergleichen mehr.
    "Für die Antike war Arbeit das Allerletzte"
    Das andere, was damit zusammenhängt, ist natürlich das bürgerliche Denken, dass die Position, die soziale Situation, die ökonomische Lage, in der ein Mensch sich befindet, nicht Ausdruck eines Privilegs oder der Zugehörigkeit zu einem Stand sein soll, sondern ein Resultat seiner eigenen Leistung, und das ist wirklich ein ganz, ganz spätes Denken, das erst mit dem Bürgertum (Vorspiele gab es natürlich in den bürgerlichen Städten seit der Renaissance, aber durchgesetzt hat es sich erst seit dem 18. Jahrhundert), dass dieses bürgerliche Denken die Leistung und damit die Arbeit ganz, ganz anders bewertete als etwa das Mittelalter oder gar die Antike.
    Für die Antike war völlig klar, dass Arbeit das Allerletzte ist und dass es eines freien Menschen wirklich unwürdig ist zu arbeiten. Das war echt Sache der Sklaven, die man deshalb auch brauchte, um selbst in Freiheit, in Muße, in Kontemplation, aber auch in sozialer und politischer Aktivität tätig zu sein, was man nie als Arbeit verstanden hätte. Arbeit war das, was man tun muss, um sich das Lebensnotwendige zu erarbeiten, die Natur, der man das abringen muss, was wir zum Leben brauchen.
    Das war ja ein großer Gedanke bei Aristoteles, der dann später von Hannah Arendt übernommen wurde, dass diese Form von Arbeit notwendigerweise unfrei ist und den Menschen unfrei macht. Das hat ja die Industrialisierung übernommen, zwar ohne Natur, aber jetzt sind es die Rhythmen der Fabriken, der Maschinen, der Fließbänder, heute der Digitalisierung, die uns die Art und Form und vor allem die Zeitform der Arbeit vorgeben, und deshalb wird Arbeit immer diesen Beigeschmack von Unfreiheit haben.
    "Wir sind so besessen vom Paradigma der industriellen Arbeit"
    Köhler: Konrad Paul Liessmann, die arbeitsteilige industrielle Welt hat uns das beschert, was Sie gerade beschrieben haben, die Koppelung von Arbeit und Wohlstand. Dass das nicht immer so ist und dass da eine große Schere auseinanderklafft, das wissen wir. Das zeigt uns der Alltag. Anstatt Abwesenheit von Arbeit zu ersehnen, fürchten wir eher Arbeitsplatzverlust. Es überwiegt so eine ökonomistische Betrachtung heute im Begriff von der Arbeit.
    Meine Frage: Kann man Arbeit eigentlich – und ich spreche mit Ihnen nicht als Ökonom oder als Gewerkschafter, sondern als Philosoph -, kann man Arbeit überhaupt vermeiden? Kann man nicht arbeiten? Denn selbst im Traum findet ja noch existenziell wichtige Arbeit statt, Traumarbeit, Verdauungsarbeit und so weiter.
    Liessmann: Das ist jetzt sehr interessant., dass Sie diese Traumarbeit - das ist ein Begriff auch von Sigmund Freud – hier erwähnen. Man könnte das ja auch so sehen, dass wir so besessen sind vom Paradigma der industriellen Arbeit, dass für uns Dinge nur dann einen Wert haben, oder besser gesagt Tätigkeiten nur dann einen Wert haben, wenn ich sie als Arbeit auffasse.
    "Den Begriff der Arbeit und anderer Tätigkeiten ganz anders bewerten"
    Köhler: Ja! Sozialarbeit, Ehearbeit, Trauerarbeit, genau.
    Liessmann: Nur träumen ist zu wenig; es muss Traumarbeit sein. Einfach traurig zu sein, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, ist zu wenig. Man muss Trauerarbeit leisten. Nur jemanden zu lieben oder zu begehren, ist doch viel zu wenig. Das muss schon Beziehungsarbeit sein. Das heißt, ich denke, das ist eine Form von Besessenheit, die wir hier an den Tag legen, und deshalb erscheint uns die Arbeit so unverzichtbar. Wenn wir tatsächlich die Arbeit auf das reduzieren, wo wir tätig sind unter bestimmten organisierten Bedingungen, um unser Leben zu produzieren und zu reproduzieren.
    Und wenn wir andere Tätigkeiten, die genauso wichtig sind, ja die vielleicht sogar wichtiger sind, im sozialen Bereich, im politischen Bereich, im kreativen Bereich, nicht mehr als Arbeit bezeichnen und wenn wir stolz darauf sind, auch Dinge zu tun, die anders organisiert sind, die anders empfunden werden, die anders bewertet werden als die Lohnarbeit und die Abhängigkeit von dieser Lohnarbeit, dann würden wir vielleicht insgesamt den Begriff der Arbeit und den anderer Tätigkeiten ganz anders bewerten, als wir es gegenwärtig tun.
    "Arbeitsplatz und Erwerbsarbeit stehen nach wie vor im Zentrum"
    Köhler: Wir sprechen in einem Moment, da gerade vom AOK-Bundesverband eine Studie herausgekommen ist, die sagt, dass der Arbeitsausfall auch durch psychische Erkrankungen etwa um 80 Prozent gestiegen sei. Volkskrankheiten sind nicht mehr Herz-Kreislauf-Beschwerden oder Übergewicht oder Fehlernährung. Nein: Es sind seelische Erkrankungen, teilweise auch langsame Erkrankungen, dass es implodiert.
    In Zeiten von Stress sind es Burn-out-Phänomene und Ähnliches. Immer mehr Arbeit kann nicht erledigt werden, weil Beschäftigte sich teilweise wochenlang krank melden. Das ist sozusagen die andere Seite davon. Aber es wäre doch anders denkbar. Es war ja immer schon seit Mitte der 70er-Jahre ein neomarxistisches Ideal zu sagen, Erwerbsarbeit soll bitte schön nicht mehr Mittelpunkt der personalen und der sozialen Identität sein. Aber das kriegen wir gar nicht weg?
    Liessmann: Wir kriegen es schwer weg, solange wir auch gesamtgesellschaftlich an die Erwerbsarbeit alles binden. Wir binden den Sozialstaat an die Erwerbsarbeit, wir binden die Position, die Stellung, die Anerkennung eines Menschen an die Erwerbsarbeit, wir binden seine Krankenversicherung, seine Sozialversicherungen an die Erwerbsarbeit.
    Das heißt, wer jetzt nicht in diesem klassischen Sinne Erwerbsarbeit hat oder Lohnarbeit vorzuweisen hat, einen Arbeitsplatz vorzuweisen hat, ist sofort im Verdacht, ein Schmarotzer zu sein, ein Fall für den Sozialstaat zu sein, nicht selber tätig sein zu können, unfähig zu sein, faul zu sein. Das heißt, das geht sofort, und daher ist völlig klar, dass der Arbeitsplatz und diese Erwerbsarbeit nach wie vor im Zentrum steht.
    "Biorhythmus umstellen, nur damit das maschinell betriebene Werk weiterläuft"
    Köhler: Auch Goethe misstraute schon dem Schlaraffenland. Er sagt, die Welt ist nicht aus Brei und Mus geschaffen, darum haltet euch nicht wie Schlaraffen, harte Brocken gibt’s zu kauen, wir müssen würgen oder verdauen.
    Liessmann: Ja, das ist schon richtig. Ich habe auch keine Sorge, dass auch ein Mensch, der nicht ständig unter der Knute der Erwerbsarbeit steht, dass der untätig wäre. Wir sind ja gerne aktiv. Wir sind ja neugierige Menschen. Wir sind auch Menschen, die gerne Schwierigkeiten versuchen zu meistern. Das merken wir ja an unserem Freizeitverhalten, wie viele Menschen in ihrer Freizeit, wo sie es nicht tun müssten, ziemlich aufwendige, schwierige, komplizierte, zum Teil auch gefährliche Dinge machen.
    Das heißt, das ist ja nicht der Punkt, sondern der Punkt ist, dass eine bestimmte Form von Erwerbsarbeit tatsächlich auf der einen Seite wirklich als Fremdbestimmung erfahren wird und auf der anderen Seite – das ist der Hinweis auf diese psychischen Erkrankungen wie Burn-out und dergleichen mehr, den Sie vorher gegeben haben -, weil die moderne Form der Arbeitsorganisation so sehr unseren allen anderen Lebensrhythmen zuwider läuft. Es ist ja nicht normal, dass Menschen in der Nacht arbeiten. Wir müssen es tun, weil es technisch möglich ist.
    Es gibt keinen Grund, den Computer um 17 Uhr auszuschalten. Man kann auch um 22 Uhr oder um 24 Uhr noch arbeiten. Fabriken rentieren sich genau dann, wenn sie rund um die Uhr betätigt werden können. Also muss man Schichtarbeiter einführen. Also müssen Menschen ihren gesamten Biorhythmus umstellen, nur damit das maschinell betriebene Werk weiterläuft. Das wundert doch eigentlich nicht!
    "Wir merken irgendwo nichts von der Entlastung"
    Köhler: Die neuen Jugendstudien haben auch gezeigt, dass Kinder beim Schulbesuch durch Kinder- oder Schul- oder Lern- oder Bildungsarbeit vermehrt Kopf-, Bauch-, Rückenschmerzen und Ähnliches haben. – Mir ist gerade ein Gedanke gekommen, abschließend vielleicht, dass unsere Kultur doch vielleicht insgesamt enorm viel Arbeit auch darauf verwendet, die Arbeit zu erleichtern oder vielleicht zu minimieren. Man könnte vielleicht sagen, Kultur ist insgesamt ein Verfahren zur Arbeitserleichterungsarbeit.
    Liessmann: Ich würde nicht sagen, dass all unsere Kulturtätigkeit auf Arbeitserleichterung hinausläuft. Ich würde sagen, Kultur ist überhaupt das andere von Arbeit. Wenn es um Kultur geht, ist die Arbeit schon erledigt sozusagen. Sondern es ist Technik. Technik hat keinen anderen Sinn, als Arbeiten zu erleichtern, und das Paradoxe ist ja: Obwohl wir in der produktivsten Gesellschaft aller Zeiten leben, obwohl wir in einer Gesellschaft leben mit dem größten technischen Aufwand, den wir betreiben können, mit den meisten Automaten und automatisch ablaufenden Produktionsschritten, merken wir irgendwo nichts von dieser Entlastung.
    Es ist doch paradox, obwohl schon so viel automatisiert wird und in naher Zukunft noch automatisiert werden wird, dass wir nicht das Gefühl haben, wunderbar, da gibt es endlich Maschinen, die uns die Arbeit abnehmen. Ganz im Gegenteil. Wir haben größte Sorge, dass die uns nicht die Arbeit abnehmen, sondern uns die Arbeitsplätze wegnehmen, und da ist insgesamt, was die Rahmenbedingungen unserer Arbeitsorganisation betrifft, offensichtlich etwas schiefgelaufen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.