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Mit den Augen eines Malers

Rom, im Herbst 1945: Vieles ist zerstört, es herrscht Mangel, und der Tod scheint noch gegenwärtig. Und doch sind die Menschen elektrisiert von der Euphorie des siegreichen Überlebens. Der Protagonist des Romans von Carlo Levi sucht eine Unterkunft und findet sie schließlich in einem riesigen Palast, in dem zwischen römischen Statuen Frauen ihre Wäsche aufhängen, in dem Büros und Schulen einquartiert wurden, und jedes Zimmer von mindestens einer Familie bewohnt wird. Improvisiert wird überall; auch auf den vielen kleinen Schwarzmärkten, die dank eines eigenen Warnsystems hinter den Rücken der Carabinieri florieren:

Von Eva Pfister | 21.02.2006
    "Es regnet, es regnet!" zischelten atemlos Dutzende von Frauenstimmen. Ein Raunen lief durch die Straße, und ehe ich mich’s versah, waren der Brotstand verschwunden, die Theken in Windeseile zusammengeklappt, die Flaschen versteckt, die Zigaretten im Ausschnitt versenkt und der Zucker unter den Röcken verborgen. Die Frauen flüchteten mit ihren Tischchen in die Hauseingänge, Büchsen, Brötchen, Zigarren und Bohnen kullerten über das Pflaster, Hände flatterten, Hocker kippten um, Röcke flogen, Rufe und helles Geschrei erfüllten die Straße, und aufgewehte Papierfetzen wirbelten durch die blaue Luft. Von einem Augenblick zum nächsten herrschte plötzlich Schweigen. Die Waren waren verschwunden, und als wäre nichts geschehen, kauerten die Frauen, in ihre Schals gehüllt, auf den Klappstühlen entlang der Hauswände, und auf den Tischchen lag nichts als unschuldiges Obst und legale Konserven.

    Carlo Levi entfaltet in seinem Roman, "Die Uhr" ein Panoptikum mit unzähligen Szenen und schrillen Figuren, das einem Film von Rossellini oder gar von Fellini alle Ehre machen würde, und oft spürt man beim Lesen, dass man vom Auge eines Malers durch das Italien der Nachkriegszeit geführt wird. Wie der Autor heißt der Ich-Erzähler Carlo und ist nach Rom gekommen, um Chefredakteur einer linksliberalen Zeitung zu werden. Es ist die kurze Phase, in der die vereinten antifaschistischen Kräfte die Regierung unter Präsident Ferruccio Parri stellen, während die kirchlichen und monarchistischen Kreise heftig dagegen opponieren. Carlo nimmt teil an den hitzigen Debatten über die Zukunft des Landes, aber er beobachtet auch, wie schwer sich die Kämpfer von gestern mit dem geforderten Pragmatismus tun. Kühl analysiert er das utopische Denken der politisch Aktiven jener Tage:

    Noch immer umflorte sie, dünn und menschenfeindlich wie Höhenluft, die merkwürdige Verklärung der Gefangenschaft, sie waren frei, wie man es nur zwischen den Mauern einer Gefängniszelle sein kann, frei schwebend im glorreichen Himmel des Intellekts, einem belebenden, klaren Himmelsgewölbe, das sie für Politik hielten und auch so bezeichneten, und unter dem Tausende Meilen tiefer träge und dunstig die Erde kreiste.

    Man kann sich vorstellen, dass Carlo Levis Mitkämpfer und Gesinnungsgenossen wenig erfreut waren, als sie sich auf diese Weise 1950 porträtiert fanden. Zumal Levi, wenn auch ohne Namen zu nennen, dem zersplitterten Treiben in diesem Wolkenkuckucksheim die Schuld daran gab, dass die Macht schließlich den Rechten der "Democrazia Cristiana" zufiel.
    Durch sein Buch "L’Orologio" fiel der Autor in der italienischen Linken in Ungnade: Man kritisierte vordergründig den Roman und warf ihm insgeheim seinen Verrat vor.

    Nun ist es allerdings nicht so, dass "Die Uhr" keine Schwächen aufweisen würde. Drei Tage im Leben des Protagonisten werden mit großer Lust an der Abschweifung und manchmal auch etwas langatmig beschrieben, und dass am Anfang seine titelgebende Uhr kaputt geht, hat man in der Mitte des Buches längst vergessen. Von den politischen Debatten springt der Autor in das Elend der Vorstädte, schildert die erotischen Verwirrungen eines Redakteurs, und beschreibt hingebungsvoll die uralten Maschinen, auf denen die Zeitung "Italia Libera" - Freies Italien - gedruckt wird, wenn nicht gerade Stromausfall die Mannschaft in die Trattoria treibt. Dort gibt es viele Alltagsszenen zu beobachten, etwa wie die armen Mädchen darauf warten, dass ein alliierter Soldat ihnen ein warmes Essen ausgibt.

    Verena von Koskull übersetzte dieses beeindruckende Stimmungsbild der italienischen Nachkriegszeit wunderbar flüssig. Sie liefert auch in einem Nachwort die notwendigen Fakten zum genaueren Verständnis des Buches und seiner Rezeption. Das geschichtspessimistische Politikverständnis, das "Die Uhr" vermittelt, konnte die Zeitgenossen in der Aufbruchsstimmung der 50er Jahre nicht erfreuen, macht es aber heute umso interessanter. Verblüffend modern und grundsätzlich ist Carlo Levis Kritik an der Parteienpolitik, die sich mehr um ihren Machterhalt als um die Bedürfnisse der kleinen Leute kümmert. In den drei Tagen, da sich der Ich-Erzähler ohne Uhr durch die Zeit treiben lässt, verliert jener Präsident die Macht, der wirklich eine neue Gesellschaft aufbauen wollte, aber aus den eigenen Reihen zuwenig Rückhalt bekam, um den politischen Apparat in den Griff zu kriegen. Als Carlo ins Ministerium kommt, um sich die Rücktrittsrede anzuhören, da sieht er schon den Amtsdienern an, dass die alte Ordnung gesiegt hat:

    Sie machten erleichterte Gesichter, als wäre ihnen ein großer Stein vom Herzen gefallen: Sie spürten, dass dies der letzte Tag war, an dem irgendwelche namenlose Unbekannte, die aussahen und gekleidet waren, als kämen sie von einem anderen Stern, in ihr Reich einfielen; (…) Nie wieder würden sie vor hirnrissigen Reformen, sinnlosen Veränderungen, gnadenlosen Säuberungen und lächerlichen Leistungsansprüchen bangen müssen, nie wieder würden sie jemanden grüßen müssen, der sich nicht scheute, sie mit seiner Bescheidenheit zu erniedrigen und zu beleidigen, da er sich sogar gegen die Anrede Exzellenz verwahrte, die doch so süß auf ihren Lippen lag.

    Carlo Levi: "Die Uhr"
    Roman. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
    Aufbau Verlag, Berlin 2005, 488 Seiten, 24,90 Euro