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Monte Generoso im Tessin
Schneegruben als Vorläufer des Kühlschranks

Der Monte Generoso bei Lugano hat eine schweizerische und eine italienische Seite. Vom kahlen Berggipfel führen zum Teil halsbrecherisch schmale Wege den Hang hinunter - darunter der "Nevèra-Pfad". Er führt zu alten Schneegruben, in denen früher Milch aufbewahrt wurde.

Von Joachim Dresdner |
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    Nevere am Monte Generoso (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Aufwärts – ging es immer. Einst mit Mauleseln, jetzt mit einer rot-blauen Elektrolok. An der Straße neben dem Bahnhof Capolago am Luganersee nimmt sie Anlauf. Auf 125 Jahre alten Zahnrädern ruckelt der Zug gemächlich neun Kilometer bergan. Seinerzeit wollte ein Arzt reiche Engländer, Deutsche, Italiener und Schweizer vom großstädtischen Industriegestank an die höhenreine Luft auf 1.300 Meter bringen. Heute geht es 400 Meter höher.
    Einen Effekt, der neben der Luft, noch immer aktuell ist, nennt Silvia Crivelli. Die sportliche Frau mit dunklen, krausen Haaren ist Kuratorin im Ethnografischen Museum des Muggiotals:
    "Die Fahrt von Capolago bis hier oben dauert etwa 50 Minuten, aber man braucht diese 50 Minuten. Es ist eine Art und Weise: weg von der Hitze, weg vom Durcheinander der Landschaft, vom Verkehr, vom Lärm und hier oben gibt es einfach die Ruhe, Frieden. Man schließt die Tür, man geht in eine andere Welt."
    Einmaliger Blick von 1.600 Metern Höhe
    Ruhig durchfahren wir das Naturschutzgebiet, einen Mischwald mit Buchen, Birken und einzelnen Fichten, sechs, oder sieben kurze Tunnel, dann vorbei an schroffen, bemoosten Felsplatten.
    Wenige Schritte von der Bergstation und dem neuen, mehrgeschossigen Panoramarestaurant entfernt, dreht sich Silvia Crivelli noch einmal um. Der Blick - einmalig:
    "Dort ist die Spitze vom Monte Generoso und das sind die weiteren Spitzen, die schon in Italien sind. Da kann man ein klein bisschen Luganer See sehen. Wir befinden uns auf 1.600, 1.700 Meter, aber komischerweise gibt es keine Bäume. Auf der Alpensüdseite die Nadelbäume reichen problemlos bis auf 1.800, 1.900! Vor Touristen gab es Bauern. In der Nähe von den Dörfern hat man Ackerland gehabt. Etwas weit weg von den Dörfern, wo es diese offene Fläche gibt, hat man Wiese gehabt und hier in der Höhe hat man Weide gehabt."

    Für Schafe, Ziegen und Kühe. Vom kahlen Berggipfel auf 1.700 Meter Höhe geht es über halsbrecherisch schmale Wege den Hang hinunter. Ein Gämsbock schaut etwa 200 Meter über uns dem Abstieg zu, Lurche huschen über Steinplatten. Silvia blickt auf meine Straßenschuhe, dann auf meine Reportergeräte:
    "Und dann legen Sie das weg und Sie nehmen die zwei Stöcke!
    Blick auf die Nevere (Schneekeller)
    Blick auf die Nevere (Schneekeller) (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Dort ist ein Grenzstein. Dort unten sehen wir Erbonne, ein kleines Dorf, einen Kilometer entfernt, da auf dieser Seite liegt Scudellate. Erbonne liegt in Italien, Scudellate in der Schweiz. Aber die ganze Landschaft hat die gleichen natürlichen Bedingungen. Diese Landschaft ist eine Karstlandschaft. Das bedeutet, dass Karst ein durchlässiges Gestein ist. Wenn es regnet, der Regen versickert rasch im Untergrund. Es gibt Wassermangel! Jetzt machen wir uns auf den Weg. Wir laufen abwärts und wo wir die Nevèra, die erste richtige Nevère, sehen werden, ist dort in Nadigh."
    Ältester Schneekeller aus dem 18. Jahrhundert
    Steil abwärts. Gut, dass ich Schwindelfrei bin und meine Füße genau dort setze, wo Silvia Crivelli zuvor hintrat. 300 Meter über Gras und Kalksteinplatten hinunter zu den Nevére und 300 Meter wieder hinauf zur Bahnstation am Panoramarestaurant, der Steinblume.
    Der älteste Schneekeller stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, der jüngste wurde um 1903 gebaut. Schweizer Bauern nutzen die Nevère bis etwa 1950. Ich schaue von oben auf drei einzeln stehende, verschachtelte, steingraue Gehöfte:
    "Alora, das Museum ist die Landschaft! Schneekeller: Nur im Muggiotal gibt es so viele Gebäude mit einem kreisrunden Grundriss. Praktisch nur Stein. Stall, oben normalerweise gibt es die Scheune und dann gleich daneben, wo die Leute wohnen, Platten auf dem Boden. Man sieht auch die Nevère. Das ist eine weitere, hier im Nadigh gibt es drei Nevère. Die Mehrheit der Nevère befindet sich auf den Alpen, also wo der Bauer einen langen Sommer bleibt, also von Mitte Mai bis Ende November, Anfang Dezember."

    Angekommen. Ein paar schattenspendende Laubbäume, Stall, Scheune, winzige Unterkunft, Schneekeller und eine Zisterne:
    "Da es praktisch kein fließenden Gewässer gibt, haben die Leute das Regenwasser gesammelt und in Wasserzisternen gehalten und das war das Wasser für das Vieh, für Leute, für Waschen, für alle Zwecke. Jetzt passen Sie auf, wo die Füße bleiben."

    Vorsichtig steigen wir Steinstufe für Steinstufe sechs, sieben Meter in die restaurierte Nevèra hinab, immer nah an der runden Wandung. Eine Wendeltreppe ohne Geländer:

    "Noch eins! Wir sind ganz unten. Herzlich willkommen in der Nevèra von Génor Caseret!"
    Die Nevère, wie sie gesehen haben, sind keine imposanten Gebäude dagegen sind praktisch, ja, ein Drittel ist sichtbar und zwei Drittel sind tief praktisch im Boden.
    Sie besitzen nur eine kleine Tür und dann ein kleines Fenster. Durch die Tür und durch die Fenster hat man im Spätwinter den Schnee hineingeworfen. Auf die Oberfläche werden Blätter gelegt, so dass das Ganze ein bisschen dämpft und dann natürlich um die Nevère hat man Pflanzen, Bäume angelegt, so dass auch sie Schatten ausgeben.
    Blick auf eine Nevere
    Blick auf eine Nevere (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Temperatur ist immer konstant zehn Grad
    Und das Ergebnis ist wirklich merkwürdig: Draußen im Sommer können auch 22 Grad auf 1.300 Meter geben und hier in der Nevèra es sind immer acht oder zehn Grad, konstant."
    Je dichter der Schnee zusammengedrückt wurde, desto länger hielt er sich im Sommer. Die in den Hang gebauten, kreisrunden Schneekeller bestehen aus Kalkstein, ohne Bindemittel zwischen den Steinen. Dank der an der Wand laufenden Treppe konnten die Bauern immer das jeweilige Niveau des Schnees erreichen. Ich frage Silvia, wie die Nevére genutzt wurden:
    "Zum Beispiel am Abend, wenn man gemolken hat, bringt man die Milch in die Nevère. Wird gesiebt, die Milch und dann wird die Milch in große Kupfergefäße hineingelegt. Die Temperatur, wir haben Messungen durchgeführt, bleibt konstant. Auch im Hochsommer gibt zwischen acht, höchstens zehn, Grad. Und, was passiert während der Nacht? An der Oberfläche bildet sich Rahm. So, am nächsten Morgen die Bäuerin, was hat sie gemacht? Mit einem Löffel aus Holz hat sie praktisch den Rahm weggenommen und das wurde benützt für Butter, für die Butterherstellung."
    Eine Kühlung für Milch und Butter. Silvia Crevelli widerspricht meinem Vergleich mit einem Kühlschrank. Hier sei es immer kalt und feucht gewesen, für Käse gar nicht gut und Fleisch konnten sich die Bauern nur zu Ostern oder Weihnachten leisten:
    "Wenn man die Architektur von der Nevèra schaut, also, ich bleibe immer fast wortlos. Wenn man denkt, das wurde nicht von Architekten gebaut, sind Bauern, die das gebaut haben. Sind Bauern, die praktisch die Steine aus den Steinbrüchen geholt haben. Es sind die Bauern, die die Trockenmauern gebaut haben und wenn man diese Form schaut: das ist nicht ein Zylinder. Wenn man genau sieht man, dass mit der Höhe die Steine praktisch ein bisschen nach vorne emporragen. Ganz oben hat man Platten, nicht Steine also dünnere Platte gelegt, so dass das Dach vorbereitet war."
    Silvia Crivelli arbeitet im Infozentrum, in der Casa Cantoni. Das ist in Cabbio. Dort versuchen die Mitarbeiter Besucher neugierig zu machen, so dass sie loswandern, um die restaurierten Nevére an Ort und Stelle zu besichtigen, oder die Mühle von Bruzella, oder die Vogelfanganlagen, die Roccoli. Silvia mag es, wenn "die Leute ins richtige Museum gehen, also in die Landschaft, um diese Schönheiten zu bewundern".
    "Man muss sich Zeit nehmen, eben das ist eine andere Welt."
    Ich werde mir Zeit nehmen, schätze ich, während ich zur Steinblume empor schaue. Das Panoramarestaurant thront 300 Meter über mir am Gipfel des Monte Generoso. Auf langen, schmalen Pfaden geht es wieder hinauf. Bauern haben die Nevére gebaut, den Satz habe ich noch im Ohr. Der dazu passende Slogan "Die Bauern sind die Künstler der Landschaft" stammt von dem Schweizer Architekturprofessor und Stararchitekten Mario Botta. Er plakatierte ihn vor ein paar Jahren in seiner Heimat, dem Tessin.
    Mario Botta liebt die "mediterrane Welt" vor den Toren Italiens, hier betreibt er sein Büro, hier gründete er die erste italienischsprachige Uni der Schweiz.
    Als Junge war Mario Botta oft auf dem Monte Generoso. Am Gipfel steht nun seine steinerne Blume. Grauer Naturstein auf Stahlbeton. Der Architekt mit graugelocktem Haar und runder Brille schaut mich aufmerksam an, als er mir erzählt, dass er in der Nähe aufgewachsen ist:
    "Es war der Hausberg für die Wanderungen, für die Sonnenaufgänge, die ich dort oben wahrnehmen konnte, aber es war auch eine Wahrnehmung der Landschaft, der Geografie, gegen Norden hin die Alpen und gegen Süden hin zu dem mediterranen Italien. Und es öffnet sich ein bisschen die Welt dadurch. Der Hausberg, also die Umgebung, die ich kannte und andererseits dieser Weitblick. Die Öffnung zur Welt hin, ganz einfach."

    Diese "Öffnung zur Welt", das ist ein atemberaubender Panoramablick: im Norden auf den Luganersee und die Alpen, im Süden auf die Mailänder Poebene.
    Blick vom Monte Generoso auf den Luganer See
    Blick vom Monte Generoso auf den Luganer See (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Das neue Tessiner Wahrzeichen
    Das neue Tessiner Wahrzeichen erhebt sich auf einer achteckigen Grundfläche. Die Räume werden von "Blütenblättern" umschlossen. Diese "Blütenblätter" lassen fünfgeschossige Türme entstehen, die sich - wie eine Knospe - unten nach außen öffnen und nach oben hin wieder schließen.
    Zwei Restaurants, Tagungsräume, die Aussichtsplattform. Die Türme der Steinblume sind mit verglasten Flächen verbunden. An die Blütenkrone schließt sich eine rechteckige Freiluftterrasse an. Botta arbeitet eher mit Holz, Stein oder Eisen als mit Plastik oder Aluminium.
    "Am liebsten hätte ich diese Blume aus dem Stein von dem Monte Generoso gebaut. Leider wird der Stein dort nicht mehr abgebaut. Das war früher vielleicht so. Deswegen habe ich nach einem passenden Stein gesucht. Es gibt verschiedene Steinbrüche hier im Tessin, also in Lodrino kann man diesen Gneis, also diesen hellgrauen Granit finden und für dieses Bauwerk verwenden. Es gibt ja viele traditionelle Steinbrüche hier im Tessin. Um in dieses Werk ein bisschen Spannung hineinzubringen, in die Fassadengestaltung, hat man diesen Stein gebrochen, zu horizontalen Streifen, um diese Spannung, diese Vibrationen, in das Fassadenbild einzubringen."
    An dessen erstem Geburtstag im April 2018 besuchte Mario Botta "sein Kind". Der Architekt schenkte ihm eine signierte Kohlestiftzeichnung der Steinblume. Gleich am Eingang zu sehen.

    "Das Gebäude fügt sich gut in die Naturlandschaft ein und trotzdem gibt es ein Gegenspiel. Es ist wie ein Picassobild, oder eine Picassoskulptur, die in einem Garten steht. Es nimmt von der Natur viel auf, aber es steht auch in einer Spannung zu der Natur. Durch diese Geometrie, durch die klaren Linien, steht es im Kontrast zu dem organischen Gelände. Es ist eine Gestaltung, die aus diesen acht Türmen besteht, sich entfaltet. Es hat eine klare geometrische Ausrichtung."
    Botta baute weltweit, unter anderem in San Francisco, Tel Aviv, Athen, Basel und Maastricht. Seine Handschrift sind monumentale geometrische Formen, oft kreisrund oder rechteckig. Als ich ihn frage, wann ihm diese Ideen einfallen, muss er lachen: "Schlafend. Belissimo. Ich arbeite während ich schlafe."
    Für Botta ist Architektur eine kollektive Arbeit. An der Steinblume hat der 75jährige mit Pietro Brenni aus Mendrisio zusammengearbeitet, einem Spezialisten für Bahn- und Betonbauten. Brenni war für die Ingenieurarbeiten an der Steinblume verantwortlich.
    Als wir wieder hinunter fahren sitze ich ihm in der Zahnradbahn gegenüber. In der bis auf den letzten, engen Platz gefüllten Bahn ist es sehr laut.
    "Fiore di pietra" thront über den Nevére
    Die Steinerne Blume auf dem Monte Generoso
    Die Steinerne Blume auf dem Monte Generoso (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Von Architekt, über Ingenieur, bis zu den Bauarbeitern, sagt Brenni voller Stolz, hätten alle, die dabei waren, gewusst: Wir arbeiten an der Spitze, wir setzen ein Wahrzeichen, das Anziehungskraft haben muss. Alle hätten 130 Prozent gegeben. Die Arbeiten begannen 2015. Im April 2017 wurde Bottas Steinblume eröffnet. Brenni lächelt verschmitzt hinter seiner dunklen Brille, als ich wissen will, was er jetzt macht: "Heute bin ich dran ein Projekt zu entwickeln für die Erneuerung des Oberbaues der Bahn! Die Gleise, die Zahnstangen, wo wir fahren ist noch Urmaterial der in 1890 und heute ist ein Projekt im Gange, um das ganze Oberbau zu erneuern." Und wieder mit Stolz fügt er kurz vor der Talstation Capolago an: "Die Zahnradbahn ist etwas, was auch in der Schweiz entwickelt worden ist."
    Das neue Wahrzeichen im Schweizer Kanton Tessin thront über den Nevére am Hang majestätisch auf dem felsigen Bergplateau des Monte Generoso: Die "Fiore di pietra", die einzigartige Steinblume, des berühmten Tessiner Architekten Mario Botta.