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Mord, Selbstmord oder Unfall?

Hat er ein wenig nachgeholfen, als sie betrunken auf die Mauer stieg? Absichtlich weggeschaut? Oder war es einfach ihre Ungeschicklichkeit, ein Unfall? Auch möglich, dass sie es nicht mehr aushielt mit ihm. Immerhin hatte er an diesem Abend schon wieder zwei junge Männer zum Übernachten eingeladen ... gegen die Abmachung. Sie wollten es doch noch einmal miteinander versuchen in diesem Urlaub.

Von Brigitte Neumann |
    Carla, die ewig betrunkene, aber auch bezaubernde 43-Jährige und ihr Mann, der Komponist Neuer Musik Lucas Loos.

    Die Künstlerfreunde zuhause in Amsterdam diskutieren: Gibt so etwas wie Anstiftung zum Selbstmord? Tschaikowsky, über den Loos gerade eine Oper schrieb, soll sich auf Befehl der Zarenfamilie wegen seiner Neigung zu jungen Männern vergiftet haben, kurz nachdem er sein Requiem, die Symphonie Pathétique geschrieben hatte.

    Weitere Verdachtsmomente tauchen auf und schließlich bietet der Tod Claras nur noch den letzten Anlass für den Ausschluss des Komponisten Loos aus dem Kreis der zwölf Künstlerfreunde. Alle hatten es sowieso satt, dass Lucas, der mit schöner Regelmäßigkeit seine politischen Glaubensbekenntnisse wechselte, sie immer wieder versuchte zu bekehren; dass er mit jedem Streit anfing, der ihm nicht Recht gab. Lucas Loos brauchte immer neue Helden für immer neue Idealismen, die er anbeten konnte und entthronen. Vernichten und etwas Neues suchen - das ist der Pendelschlag seines Lebens. Warum erklärt die Autorin Connie Palmen:

    "Es ist ja auch schon im ersten Akt, dass meine Ich-Erzählerin so viel Verständnis zeigt für diesen Komponisten, der in seiner Jugend sehr streng protestantisch aufgewachsen ist und sich dann gegen diesen Gott der Protestanten kehrt. Was er aber nicht vernichten konnte, war die Sehnsucht nach dem Höheren. Ich mache es im Buch eigentlich noch einfacher und sage dort: Es ist einfach das Bedürfnis, sich irgendwo unterzubringen, in einer Gruppe, so eine Suche nach einer kollektiven Identität. Weil er so zerrissen war, so ein zwiespältiger Mann - homosexuell und verheiratet, hat er immer gerufen "Wörter machen Krieg!" und hat zugleich so viele Essays, Artikel in der Zeitung geschrieben, Opern-Libretti hat sehr viel an das Wort geglaubt. Ich brauchte eine Figur, weil das meine Idee von der Tragödie von Luzifer ist, ein Engel, aber ein gefallener Engel. Also ein Mann, der sich noch immer sehnt nach der Liebe von etwas Größerem, von einem Gott oder einem Herrn oder einer Idee, einem Idealismus, einer Gruppe. Das macht Lucas Loos in meinem Buch, sucht eigentlich noch immer den Gott, den eigentlich bestritten hat im Himmel. Das ist ja das Bild von Luzifer: Er hat Gott so geliebt, dass er nur noch gegen ihn streiten konnte."

    Lucas Loos ist Luzifer. Aber nicht nur er. Auch Clara ist Luzifer: Ein Engel ist gefallen! steht in ihrer Todesanzeige. Und die Autorin, die, was dieses Buch angeht, nur die Mittlerin der Geschichte in dritter Instanz ist, sieht sich ebenfalls in dieser Rolle:

    "Ja, so wie ein Engel. Ein Engel ist das auch ein bisschen. Immer zwischen den Botschaften, zwischen den Göttern."

    Aber das sind noch nicht alle Figuren in ähnlicher Mission: Raphael, in der Bibel ein gottestreuer Engel, im Roman Freund und Biograph des Komponisten, arbeitet an seinem Portrait für eine Zeitschrift. Es trägt den Arbeitstitel "Luzifer". "Luzifer" heißt auch die Tragödie von Jost van den Vondel aus dem 17. Jahrhundert, die für Connie Palmens Roman Pate gestanden hat. Leicht verknäulen sich da beim Lesen die Interpretations-Synapsen ob dieser Fülle von Anspielungen, Querverweisen und Überschneidungen.

    Unterkomplex ist noch keiner von Connie Palmens bislang fünf Romanen gewesen. Manche aber sind klarer.

    Connie Palmens "Luzifer" ist wie eine Tragödie in fünf Akte gegliedert ist. Jeder Akt spielt an einem Ort, zu einer Zeit, wie es die Gesetze der griechischen Urform vorschreiben.
    "Das Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz.", sagt Goethe, also auf einem Konflikt zwischen zwei Mächten. Der tragische Held muss sich für eine Seite entscheiden, obwohl er auch der anderen zuneigt und sich mit seiner Entscheidung schuldig macht. Im Falle von Lukas Loos wären das seine Wünsche nach friedlichem, familiärem Wohlbehagens, die gegen die Mächte seiner Ambition für Ruhm, Größe und Unsterblichkeit unterliegen. Immerhin will er ja das Musiktheater revolutionieren, eine neue Harmonie erfinden. Connie Palmen:

    "Zwiespältig und zerrissen, wie er ist, liebt er das Theater und hasst es. Wie sehr häufig in seinem Leben, denkt er, dass er wählen muss. Weil er so ein rechtständiger Mensch sein möchte. Das ist eigentlich der größte Fehler in seinem Leben, dass er so ein rechtständiger Mensch sein möchte. Oh, ist das wieder mal eine Worterfindung von mir? Eindeutig, ja das ist es. Er verweigert sich eigentlich der Literatur, die doppelsinnig ist per definitionem. Das ist eigentlich ein Untertext dieses Buches, dass es ein Plädoyer ist für die Literatur als Gegengift für dieses, alles, was Extremistisch und Absolutistisch ist, was mich am meisten ängstigt und was mich böse macht und was ich verabscheue."

    Aber es geht in Luzifer noch um weitere Bedeutungsebenen von Literatur, nämlich um die Kraft der Fiktion, Wirklichkeit zu erzeugen. "Es gibt eine Erzählung, die der Wirklichkeit vorausgeht", schreibt Connie Palmen. Das kann ein Auftrag der Eltern sein, ein als Kind gefasster Plan, ein Ruf, den man zu verteidigen hat. Connie Palmen erzählt, wie Lucas Loos seine Geschichte verwirklicht, wie er ein Schicksal vollzieht, das für ihn bestimmt war. Aber nie ist alles Fiktion, sagt Connie Palmen:

    "Es ist immer eine Wechselwirkung. Und das macht es auch so interessant. Und dann rede ich nicht mehr über Wahrheit, sondern über Wirklichkeit und Fiktion. Die sind eigentlich immer im Gespräch. Zum Beispiel man kann seine Hand verbrennen, dann ist das natürlich Wirklichkeit. Es tut weh. Es ist rot. Aber dann kommt die Geschichte. Wer ist schuld daran, dass du deine Hand verbrannt hast. Und dann gibt es immer schon zwei Geschichten. Und dann fängt auch das Interessante an. Dieser Schmerz ist gar nicht interessant. Aber die Diskussion, die du vielleicht mit deinem hast über wer Schuld daran ist, dass du deine Hand verbrannt hast, die ist interessant."

    Der Roman "Luzifer" spielt rund um die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts - der Kampf gegen die verkarsteten Strukturen des Establishments war im Schwange - aber die antiautoritären Kämpfer setzten vielerorts neue Zwänge an die Stelle der alten: Abweichler wurden abgestraft, Individualität war nur innerhalb eines festen Rahmens erwünscht. Man wollte dazugehören, eine Gruppe haben, ein Fähnchen, ein Logo. Das ist ein menschlicher Wunsch, findet Connie Palmen und sieht da auch eine ganz aktuelle Dimension ihres Romans "Luzifer":

    "Ich meine, wenn die Diskussion nur über die Bedrohung durch eine Religion geführt wird, dann versteht man die Zeit nicht. Denn das ist das Problem, man muss andere Dinge zusammenfügen. Und dann ist da dieses sehr psychologische Bedürfnis, wie ich das in Luzifer beschreibe, dass man sich irgendwo unterbringen möchte. Und wenn das geschehen muss in einem fremden Land oder in einem, wovor jeder sagt, das ist unser Land und man muss sich irgendwo unterbringen und das Land verweigert sich, dann sucht man sich eine andere Gruppe, eine viel ältere und altmodischere Gruppe."

    Kunst heißt, einen Zusammenhang zwischen Dingen herzustellen, den vorher niemand gesehen hat, schreibt Connie Palmen in einem ihrer Essays sinngemäß. Das ist ihr in "Luzifer" - man möchte sagen - im Übermaß gelungen. Der Leser, der ja nicht wie Connie Palmen vier Jahre lang an diesem Roman sitzt, spürt die von der Autorin geknüpften vielfachen Vernetzungen der Phänomene und zappelt manchmal ein wenig ratlos darin.
    "Luzifer" kann man als Krimi lesen oder - wie gesagt - als anspruchsvolle philosophische Denksportaufgabe. Aber das größte Vergnügen ist es, Connie Palmens biographische und autobiographischen Romane überhaupt als Werke psychologischer Deutungskunst zu lesen. In dieser Hinsicht ist sie einfach und eloquent, findet überraschende Muster, einen poetischen Ausdruck. Sie besitzt eine überragende Fähigkeit, Menschen zu enträtseln. Obwohl die Tochter einer Hausfrau und eines Milchausfahrers nie Psychologie studiert hat, sondern Philosophie und Literatur.

    "Ich denke, alle Talente, die man entwickelt, dass man die nur entwickelt, weil man sich bedroht fühlt. Oder weil man denkt, dass es nötig ist, einander so gut zu verstehen, sonst macht er etwas Schreckliches. Ich denke, dass man keine Talente braucht und auch fast keine Intelligenz, wenn es nicht aus Notwehr ist. Also ich habe das entwickelt, weil ich Angst gehabt habe, weil ich Dinge verstehen möchte, weil ich es nicht begriffen habe, wie es ging in einer Klasse. Oder weil ich die Anderen nicht verstand. Ich habe zum Beispiel lange nicht verstanden, warum ich mich so alleine gefühlt habe. Ich habe immer Gesellschaft gesucht und Freunde und habe keine gefunden in meiner Jugend. Die haben mich alle nicht verstanden. Und ich habe sie sehr gut verstanden. Ja, die sind so einfach in meinem Dorf. Das einzige, was man verstehen konnte, war, dass die heiraten möchten und Kinder bekommen möchten. So viel Mysterium gab es da nicht. Meine erste Schule war nur Mädchen. Die haben alle dieselben Träume gehabt. Mann, Haus, Kinder, Liebe - alles romantisch. Und das hatte ich schon damals nicht. Und da war die einzige Lösung, dass ich so weit wie möglich weggehen musste. Ich denke, dass ich die ersten 35 Jahre meines Lebens - ich war 35, als die Gesetze herauskamen - bin ich nur weggegangen.
    "

    Jetzt ist Connie Palmen 54. Und nach Luzifer, verrät die Autorin, kommt Judas, der Roman über den Verrat. Den Verrat an Jesus, und den in Youtube, den Verrat der Bürgerreporter mit der Handykamera, und den Selbstverrat auf Myspace. Auch enthalten, der Verrat des Schriftstellers an seinem Modell. Und das wichtigste bei Connie Palmen: Wie das alles miteinander zusammenhängt. Judas: In drei bis vier Jahren.