Mittwoch, 08. Mai 2024

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Musikfest Berlin
Leidenschaftlich, atemberaubend, ausdrucksstark bis zum Anschlag

In Berlin konnte man dieser Tage erleben, was Musik wirklich ausmacht. Ergreifende Musikwerke, hingebungsvolle Interpreten, rauschende Abende voller Leidenschaft und Tiefe - bis zur Selbstkasteiung.

Von Mascha Drost | 21.09.2014
    Boshafte Zungen kolportieren: das Horn sei ein göttliches Instrument - man bläst hinein, und allein der da oben weiß, was herauskommt. Beim Musikfest allerdings tendierte die Zahl der berüchtigten Hornkiekser gen null - egal ob Natur - , Ventil - oder Alphorn, stattdessen präsentierte sich das Horn als das wohl wandlungsfähigste und vielseitigste Instrument der Blechbläserfamilie. Es wurde ihm allerdings einiges abverlangt. Jörg Widman etwa bürdet in seinem "Lied für Orchester" dem Solohorn einen furchterregenden Anfang auf, gleich die ersten Töne, hoch oben, im äußersten pianissimo - Wolfgang Rihm dagegen schickt es in seinem Hornkonzert hinunter in den klanglichen Orkus, in Tiefen, die außer dem Solisten Stefan Dohr, Solohornist der Berliner Philharmoniker, wohl nur wenige erreichen.
    Das Hornkonzert von Wolfgang Rihm hatte beim Musikfest seine deutsche Erstaufführung, sein Konzert für Klaviertrio und Orchester seine Uraufführung - ein Stück, in dem sich verschiedene Allianzen bilden - Klavier und Schlagzeug verbünden sich, Geige und Cello schwelgen dagegen im Melos, und positionieren sich dem relativ klein besetzten Orchester gegenüber sehr solistisch, fast schon klassisch-konzertant. Man brauchte sich vor dieser Neuen Musik nicht zu fürchten - üppige Kantilenen, prägnante Rhythmik, sogar Anklänge an Jazz fanden sich da - und alles endete in einem veritablen Rausschmeißer.
    Pierre Laurent Aimards Bach-Interpretation: eine hingebungsvolle Selbstkasteiung
    Noch wilder trieb Peter Eötvös die Solistin Patricia Kopatchinskaya durch sein Violinkonzert, ein atemlos-stürmisches Werk, dem sich die Geigerin einer Furie gleich annahm, kompromisslos alle Möglichkeiten von Klang und Instrument ausnutzend. Ein Riesenerfolg, wie die anderen großen Solistenkonzerte überhaupt. Gleich zu Anfang Daniel Barenboim mit beiden Brahms-Klavierkonzerten - ein Marathon, der den über 70-Jährigen zwar mitnahm aber dennoch als Sieger von der Bühne gehen ließ. Einiges ging daneben, anderes nur im halben Tempo - aber nicht wenige Töne hallten noch tagelang nach; Klänge, bei denen es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein mochte, von magischer und unwirklicher Schönheit, wie sie in solcher Vollkommenheit wohl nur Barenboim aus den Fingern perlen.
    Man hörte an diesem Abend allerdings auch mehr Barenboim als Brahms - das hinter-die-Musik-Zurücktreten ist seine Sache nicht, das ist bescheideneren Naturen wie etwa Pierre-Laurent Aimard überlassen. Behutsam, andächtig, fast skrupulös näherte er sich Bachs Wohltemperierten Klavier, tastet sich ohne Pedal, ohne pianistisches Sicherheitsnetz durch die polyphonen Geflechte, fast schon eine musikalische Selbstkasteiung - mit einem ebenso durchleuchteten wie empfindsamen Spiel als Erlösung. So beeindruckend die Solokonzerte allerdings waren - das Musikfest war und ist in erster Linie ein Festival der Orchester - ein inoffizielles Schaulaufen. Cleveland mit seinem atemberaubend präsenten und scharf-glänzenden Blech, das Concertgebouw-Orchester voller Noblesse, London Symphony mit John Eliot Gardiner penibel im Detail und trotzdem voller Verve, Sächsische Staatskapelle, Münchner Philharmoniker, Gewandhaus - und, natürlich, die Berliner Philharmoniker. Alle Schumann- und Brahms-Sinfonien an vier aufeinanderfolgenden Tagen – ein Triumph, den Musiker und Dirigent im Schweiße ihres Angesichts erringen. Simon Rattle fordert das Äußerste – und bekommt es: Einen überwältigenden Forte-Klang, satt, überbordend und für Brahms und Schumann von stellenweise erschreckender Wucht, und Passagen, die die Grenze zum Ätherischen überschreiten; Soli in Oboe oder Klarinette, so delikat, klangveredelt und hingebungsvoll gespielt, wie man es sich schöner nicht träumen könnte. Unter Hochspannung stehen diese Abende, und nicht jede Stelle verträgt diesen unbedingten Willen zum Ausdruck gleichermaßen– aber Interpretationen im Schonwaschgang hört man oft genug, hier hat man sich bis zum Anschlag getraut. Muss auch mal sein.